Seite - 70 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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70 „Die Zeitung ist zum täglichen geistigen Brote des
Volkes und die Verbreitung derselben zu einem Cul-
turmesser geworden. Trotzdem haben erstaunlicher-
weise nur wenige Leser eine Vorstellung, wie eine
Zeitung gemacht, geschrieben, gesetzt, gedruckt und
expediert wird.“1 So heißt es im Interessanten Blatt
am 18. November 1897. Und sogleich wird ein Zipfel
des Geheimnisses gelüftet. Der Text wirft einen Blick
hinter die Kulissen der Zeitungsproduktion. Und ein
beigefügtes Foto zeigt den Druckereisaal der Firma
Waldheim, in dem Das interessante Blatt hergestellt
wird (Abb. 1). Um die Wirkung der Aufnahme zu er-
höhen, wird das querformatige Bild im Hochformat
gedruckt, man muss also die Zeitung drehen, um die
Ansicht im Detail betrachten zu können.
Die Aufnahme ist beeindruckend, immerhin han-
delt es sich um das erste in einer österreichischen
Zeitung veröffentlichte Foto, das eine moderne Zei-
tungsdruckerei im Betrieb zeigt. Eindrucksvoll ist
aber auch die Inszenierung. Der Fotograf hat seine
Kamera erhöht positioniert, um den ausgedehnten
Saal von oben überblicken zu können. Etwa zwei
Dutzend Angestellte – der Großteil von ihnen ist
weiblich – haben hinter ihren Maschinen Aufstellung
genommen. Viele von ihnen blicken in die Kamera.
Im Vordergrund des großen Raumes ist der Leiter
der Druckerei zu erkennen. Die Frauen und Männer
arbeiten an den elektrisch betriebenen „Illustra-
tions-Druckmaschinen“, auf denen sich Druckproben
und fertige Zeitungsblätter stapeln. Bei den Maschi-
nen handelt es sich noch zur Gänze um Flachdruck-
und Lithografiemaschinen, Rotationsdruckmaschinen
werden erst gut ein Jahrzehnt später aufgestellt. Um
die Lichtverhältnisse zu optimieren, ist der Drucksaal
mit einem verglasten Dach versehen, das bei direkter
Sonneneinstrahlung mittels großer Tuchbahnen abge-
deckt werden kann.
„Wenn ein illustriertes Journal wie das ‚Interes-
sante Blatt‘ im Laufe der Jahre eine geradezu colos- sale Auflage erreicht, so daß manche Nummer in
hunderttausend Exemplaren expediert wird, muß
darauf gesehen werden, daß der Druck so rasch als
möglich vor sich geht, ohne daß aber die Deutlichkeit
und die künstlerische Ausführung der Illustration lei-
det. Das ‚Interessante Blatt‘ hat sich daher an eines
der größten Drucketablissements in Wien, R. v. Wald-
heim, gewendet, um allen Anforderungen gerecht zu
werden. Diese glänzend eingerichtete Druckerei hat,
um die Auflage des ‚Interessanten Blattes‘, den künst-
lerischen Intentionen dieses publicistischen Unter-
nehmens entsprechend zu genügen, bewältigen zu
können, neue Maschinen aufgestellt, die wir heute
im Bild bringen.“2
Ganz zufällig ist es nicht, dass die führende illus-
trierte Zeitschrift des Landes, Das interessante Blatt,
kurz vor der Jahrhundertwende erstmals einen Blick
hinter die Kulissen des Druckgewerbes freigibt. Denn
in diesen Jahren ist der Bilderdruck in der Zeitung
in einem radikalen Umbruch begriffen. Das Foto ist
dabei, die Zeichnung zu ersetzen. Praktisch alle illus-
trierten Wochenzeitungen stellen auf den Fotodruck,
die Autotypie, um. Damit steigen die qualitativen He-
rausforderungen an den Bilderdruck. Um den neuen
Ansprüchen genügen zu können, sind umfangreiche
technische Auf- und Umrüstungen notwendig, die bis
zum Ersten Weltkrieg andauern. Stolz präsentiert das
Blatt den hohen technischen Standard seiner Haus-
druckerei Waldheim – natürlich in einer Fotografie
und nicht in einer Zeichnung.
Eineinhalb Jahrzehnte später lüftet Das interessan-
te Blatt ein weiteres Mal den Vorhang. Der Anlass ist
ein weiterer radikaler Modernisierungsschritt. Das
Blatt zieht im Frühjahr 1912 in ein neues Verlags-
gebäude im 3. Wiener Gemeindebezirk (Rüdengasse
11). Diesmal reicht ein einzelnes Foto aus dem Druck-
saal nicht aus, um die Herstellung einer illustrierten
Zeitung zu veranschaulichen. Den Lesern wird am
16. Mai 1912 unter dem Titel „Das neue Heim des
Redaktion, Druck, Vertrieb ·
Wie eine illustrierte Zeitschrift
entsteht7
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang