Seite - 22 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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22 Die Schulerstraße ist schmal und auf den ersten
Blick unauffällig. Sie beginnt im Zentrum der Stadt,
wenige Meter hinter dem Wiener Stephansdom, und
durchquert, leicht abwärts verlaufend, das Gewirr
mittelalterlicher Gassen. Die Straße gehört nicht zu
den großen Prachtstraßen der Stadt, aber wichtig ist
die Schulerstraße gleichwohl: Sie ist – zumindest bis
zum Ersten Weltkrieg – die Zeitungsstraße Wiens.
Hier und in den umliegenden Gassen, etwa in der
Wollzeile, der Bäckerstraße, der Singerstraße, am
Fleischmarkt oder in der Rotenturmstraße, haben
alle wichtigen Zeitungen und Journale der Hauptstadt
ihre Anzeigenbüros, Vertriebslokale und teilweise
auch ihre Redaktionsräume. Die Straßen und Gassen
sind von weithin sichtbaren Anzeigentafeln gesäumt.
An den Fassaden weisen Schilder auf die Verkaufs-
räume und Annoncenbüros der einzelnen Blätter
hin, in den Schaufenstern sind neben den neuesten
Zeitungsausgaben aktuelle Pressebilder ausgestellt.
Wie sehr dieses Viertel, das zugleich ein traditionel-
les Zentrum des Buchhandels ist, in der Hand der
Presse ist, lässt sich gut anhand des zentralen Wiener
Adressbuchs, des Lehmann, zeigen.1 Wenn man die
Anschriften der einzelnen Blätter in den Jahrzehnten
vor der Jahrhundertwende auf dem Wiener Stadtplan
verortet, kann man die Entwicklung dieser Gegend
zum Zeitungsviertel anschaulich nachvollziehen.
Wiens Zeitungsstraße
Als der Journalist und Unternehmer Sigmund
Auspitzer 1882 eine neue illustrierte Wochenzei-
tung – Das interessante Blatt – gründet, zieht er
mitsamt der Redaktion und Administration natürlich
in die Schulerstraße. Untergebracht ist die Zeitung im
Haus Nummer 14, einem leicht zurückgesetzten re-
präsentativen Gebäude. Im Erdgeschoss befinden sich
die Auslieferung (Expedition) und das Annoncenbüro.
Darüber liegen die Redaktionsräume. Am 24. Januar 1884, zwei Jahre nach seiner
Gründung, kommt Das interessante Blatt in einem
bemerkenswerten Bildbericht auf ebendiese Straße
zu sprechen. Es lohnt sich, diesen lebendigen Stim-
mungsbericht über Wiens Zeitungsstraße etwas ge-
nauer zu betrachten, denn er ist ein seltenes Beispiel
für die Medienbeobachtung in eigener Sache. „Die
Schulerstraße“, so heißt es in dem Beitrag, „verdient
den Namen einer Zeitungsgasse; von hier aus neh-
men die bedruckten Blätter, welche die öffentliche
Meinung machen, wenn sie auch nicht die öffentliche
Meinung sind, im Fluge ihren Weg durch die ganze
Stadt, durch die ganze Monarchie, hier tritt die auf-
reibende journalistische Arbeit der Nacht zuerst in
die Öffentlichkeit. Alle größeren Blätter Wiens haben
in der Schulerstraße oder doch in der unmittelbaren
Nähe derselben, ihre Expeditionen, und mit Ungeduld
sieht man tagtäglich vor der Ausgabe der Zeitungen
große Menschenmengen in der engen, schmalen Gas-
se des Momentes harren, da der aus der Druckerei
im schnellsten Tempo daherrasende Zeitungswagen
die Neuigkeiten des Tages bringt.“2 Der Beschreibung
beigefügt ist eine Zeichnung, die die Hektik vor dem
Eingang und den Schaufenstern des Interessanten
Blattes einfängt (Abb. 1). Männer, Frauen und sogar
Kinder drängen sich vor dem Gebäude, einige haben
bereits ein Exemplar der neuesten Ausgabe ergattert,
andere betrachten neugierig die Schaufenster.
Der Anlass für die Reportage ist, das erfahren wir
in der Folge, ein jüngst aufgeklärter Serienmord, über
den in der jüngsten Nummer des Interessanten Blattes
in Bild und Text berichtet wird. Am 10. Januar 1884
ist Hugo Schenk, ein lange gesuchter Mörder, festge-
nommen worden. Er hatte im Jahr zuvor zusammen
mit seinem Komplizen Karl Schlossarek vier Dienst-
mädchen ermordet. Die Nachricht von seiner Verhaf-
tung ist das Stadtgespräch. Als erste Wochenzeitung
bringt Das interessante Blatt – gezeichnete – Bilder
der Bluttat und der beiden Täter. Der illustrierte
Bilder, Nachrichten, Sensationen ·
Die Zeitungsstadt Wien um
19003
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang