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„In einem Zeitalter, wo die ,Nerven‘ eine so große
Rolle spielen und wo die Heilanstalten nicht im Stan-
de sind, alle Leute aufzunehmen, die dort Zuflucht
und Gesundheit suchen, ist die Bedingung: Kaltblü-
tigkeit – eine sehr strenge Forderung. Und doch ist sie
die weitaus notwendigste Eigenschaft des Luftschif-
fers. Dann kommt als zweites: eine Körperkonstitu-
tion, die Strapazen ertragen kann.“1 Als der öster-
reichische Ballonpionier Franz Hinterstoisser 1904
in einem autobiografischen Rückblick diese Sätze
schreibt, skizziert er die Erfahrungen des Luftschif-
fers als Gegenpol zur diagnostizierten Kulturkrise.
Während der Durchschnittsmensch an den „Nerven“
und an der Hektik der Großstadt leide, schaffe es der
Ballonpionier – dank seiner Kaltblütigkeit und Stärke
–, der kränkelnden Zivilisation kraftvoll entgegenzu-
treten. Er, der Luftschiffer, sei der wirkliche Anti-
pode zur angeschlagenen Kreatur am Boden, er sei
das Vorbild, wenn es um die Schulung von Geist und
Körper gehe. Bei den Ballonfahrten, so Hinterstoisser,
„lernen wir unter neuen, nicht gewöhnlichen, ganz
eigenartigen Bedingungen das Leben kennen – ein
Reiz, den das Menschengeschlecht erst zu kosten be-
gonnen hat und der nur wenigen Auserlesenen zu
genießen ermöglicht ist. Frohgemut und willenlos
folgen wir der Windsbraut, bis wir wieder den Ballon
mit Überlegung, Ruhe und Geistesgegenwart zur Erde
zwingen; das alles stählt unsere Nerven zum weiteren
Kampf im täglichen Leben, macht unser Herz gesund
von all den vielen kleinlichen Sorgen und zeigt uns
die erhabene Größe der Natur im stolzen, einsamen
Fluge über jene Welt, die so klein ist.“2
Der Traum vom Verlassen der Erde, das zeigen die-
se Passagen, wird als Flucht aus dem bedrückenden
Alltag der städtischen Zivilisation imaginiert. Diese
Sehnsucht erfasst um die Jahrhundertwende eine
ganze Generation. Die Ballonhelden, die die Welt der
Lüfte gesehen und erlebt haben, werden am Boden
stürmisch empfangen. Das gilt für auch für Hinter- stoisser selbst. Seinen Lichtbildvortrag „In den Lüf-
ten“ präsentiert er unzählige Male. Allein im Jahr
1898 tritt er 98-mal vor Publikum auf, bis 1903 hält
er den Vortrag insgesamt 300-mal.3
Noch kurz nach der Jahrhundertwende gilt es als
ausgemacht, dass die Zukunft der Luftfahrt dem Bal-
lon oder allenfalls dem jüngst entwickelten Zeppelin
gehört. In den folgenden Jahren verschieben sich die
Gewichte aber schlagartig. Die Ballonpioniere erhal-
ten ernsthafte Konkurrenz durch neuartige Flugge-
räte, die schwerer sind als Luft: Flugzeuge. Ein neu-
er Typus des Aviatikers tritt auf: der Flugzeugpilot.
Noch hat sich kein allgemeingültiger Begriff für diese
motorgetriebenen Luftschiffe etabliert. Sie werden
Aeroplane, Drachenflieger oder einfach Apparate ge-
nannt. Der erste Flug der Brüder Wright im Prototyp
eines Aeroplans im Jahr 1903 ist noch ein unsicheres
Hoppeln über den Boden. Zwölf Sekunden lang hebt
das Gerät ab, nach 36 Metern ist es wieder am Boden.
Bald aber werden die Fluggeräte verbessert. Immer
weiter fliegen die neuen Apparate. Als die Brüder
Wright sich 1908 entschließen, ihre Erfindung, die sie
zunächst weitgehend im Geheimen weiterentwickelt
haben, in Form von Flugshows öffentlichkeitswirk-
sam zu bewerben, geht es Schlag auf Schlag. Immer
neue Pioniere tauchen auf, immer neue Wettrennen
werden veranstaltet und lukrative Preise ausgelobt.
Am 13. Januar 1908 gelingt es dem französische Flug-
pionier Henry Farman als erstem Menschen, einen
Kilometer im motorgetriebenen Flugzeug zurückzu-
legen. Er erhält 50 000 Francs Preisgeld. Monat für
Monat werden nun neue Rekorde aufgestellt. Als Wil-
bur Wright am 31. Dezember desselben Jahres eine
Strecke von 124 Kilometern in zwei Stunden und 20
Minuten zurücklegt, zweifelt niemand mehr an der
Zukunft der motorgetriebenen Luftfahrt.
Innerhalb weniger Monate ist aus dem techni-
schen Spleen einiger weniger eine Masseneuphorie
geworden. In vielen Städten Europas werden nun
Als die Männer fliegen lernten ·
Die ersten Wiener Flugschauen 9
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang