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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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437 Mitte Mai 1903 findet im beliebten Wiener Vor- stadtlokal „Zum grünen Tor“ eine „Männerschön- heits-Konkurrenz“ statt.1 Ausgerichtet wird die Veranstaltung vom österreichischen Athletenclub- verband. Der Andrang im Saal ist gewaltig. Unter die Schaulustigen haben sich auch einige Journalisten und Fotografen gemischt, die in den folgenden Tagen über den Abend in großer Aufmachung berichten. Das interessante Blatt widmet dem Ereignis sogar die Titelseite (Abb.  1). „Die Konkurrenzen“, heißt es im Innenteil des Blattes, „bei denen über die Schönheit von Mädchen entschieden wird, sind eine Alltags- erscheinung.“2 Ein Wettbewerb aber, bei dem halb nackte Männer auf der Bühne nicht nur im Hinblick auf ihre Kraft, sondern auch in Sachen Schönheit ge- geneinander antreten, das sei neu und aufsehenerre- gend. „An antike Feste wurde man erinnert, wenn so ein moderner Apollo (…) stramm und tapfer aufmar- schiert, im Vollbewußtsein athletischer Kraft.“3 Die Männerschönheiten – es sind Athleten von Wiener Sportvereinen – präsentieren sich dem Foto- grafen Anton Huber in eingeübten Posen. Mit knapp sitzenden Unterhosen sparsam bekleidet, bieten sie dem Publikum ihre körperlichen Reize dar. Der Sieger der Konkurrenz, der Student Raimund Walter (Dritter von links) vom Wiener Athletiksportclub, entspricht ganz dem gefragten männlichen Idealbild: Er ist groß, schlank und dennoch kräftig, hat eine schmale Taille, breite Schultern und steht, die Hände auf dem Rücken verschränkt, stolz auf der Bühne. Bis weit nach Mit- ternacht dauert die Veranstaltung. „So lange währ- te es nämlich, bis die Jury ihr Urteil gefällt und die Preise – Ehrenpreise, goldene und silberne Medail- len – und Diplome zur Verteilung gebracht hatte.“4 Mit diesem Bild kehren wir am Schluss dieses Buches noch einmal zurück in die Welt der Jahrhun- dertwende. Was hat der Wiener Männerschönheits- wettbewerb aus dem Jahr 1903 mit Fragen der Kul- turgeschichte zu tun? Auf den ersten Blick vielleicht Eine andere Kulturgeschichte · Schluss 31 nicht viel. Wenn wir die Szene aber in einen breiteren Kontext stellen, eröffnen sich interessante Verbin- dungslinien. Nackte Männer auf der Titelseite – für die altehrwürdige gutbürgerliche Tagespresse ist ein solches Sujet um 1900 ein absolutes Tabu. In der populären Bildpresse aber ist ein solches Titelblatt nicht ungewöhnlich. Es zeigt, dass die thematische Spannbreite der Publizistik um 1900 erheblich ist. Sie reicht von der trockenen Nachrichtenaufbereitung in den etablierten gutbürgerlichen Tageszeitungen bis hin zur Sensationsberichterstattung in der auflagen- starken illustrierten Wochenpresse. Die Jahre um 1900 werden häufig als Zeit des Um- bruchs geschildert, als Zeitabschnitt, der durch tief greifende kulturelle Erschütterungen gekennzeichnet ist. Lange Zeit konzentrierte sich die Forschung zum Thema „Wien um 1900“ auf die Errungenschaften der Hochkultur, also die Welt der Schreibenden, Ma- lenden, Musizierenden, und nicht die Massen- und Populärkultur, die Welt der unteren Schichten und der Vorstädte. Erst in den letzten Jahren wurde ver- stärkt Kritik an diesem verengten Konzept geübt und ein erweiterter Kultur- und Gesellschaftsbegriff ge- fordert.5 Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten, den eingeengten kulturgeschichtlichen Blickwinkel in Richtung Populärkultur zu erweitern. Durch die Brille der populären Bildpresse betrachtet, erweist sich das hochkulturelle Konzept der Jahrhundertwende als überaus brüchig. Um die Welt der Jahrhundertwende besser verstehen zu können, reicht es also nicht, die bürgerlich-liberale Neue Freie Presse oder ähnliche Medien zu studieren. Erst wenn wir in die Themen- welt und die Bilder des Boulevards eintauchen, wird die gesellschaftspolitische Entwicklung dieser Zeit, die in sich voller Widersprüche ist, anschaulicher. Ich habe in diesem Buch zu zeigen versucht, wie produk- tiv und erhellend es ist, wenn man den Hochsitz der etablierten bürgerlichen Kultur verlässt und in die „Niederungen“ der Populärkultur hinabsteigt.
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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Untertitel
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Autor
Anton Holzer
Verlag
Primus Verlag
Datum
2014
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-86312-073-3
Abmessungen
23.0 x 29.0 cm
Seiten
498
Schlagwörter
Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
Kategorie
Medien

Inhaltsverzeichnis

  1. Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
  2. Neue illustrierte Welt Einleitung 10
  3. Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
  4. Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
  5. Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
  6. Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
  7. Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
  8. Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
  9. Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
  10. Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
  11. Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
  12. Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
  13. Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
  14. Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
  15. Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
  16. Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
  17. Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
  18. Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
  19. Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
  20. Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
  21. Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
  22. Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
  23. Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
  24. Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
  25. Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
  26. Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
  27. Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
  28. Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
  29. Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
  30. Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
  31. Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
  32. Anhang
    1. Anmerkungen 446
    2. Fotografinnen und Fotografen 1890 bis 1945 Biografische Notizen 466
    3. Literatur 483
    4. Zeitungen und Zeitschriften 490
    5. Index 491
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