Seite - 234 - in Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Bild der Seite - 234 -
Text der Seite - 234 -
234 Als Wilhelm Willinger Ende Juni 1919 in Wien das
Fotografengewerbe anmeldet und Ende November
desselben Jahres ein Atelier eröffnet, ist er beruflich
kein Newcomer mehr. Er hat zu diesem Zeitpunkt
bereits zwei Jahrzehnte Berufserfahrung gesammelt
und zunächst in Budapest, später in Berlin gut gehen-
de Ateliers betrieben.1 Geboren 1879 als Mór Wilhelm
Willinger, eröffnet er um 1900 sein erstes Atelier in
Budapest. Um 1909 zieht er nach Berlin, wo er eben-
falls als Fotograf tätig ist. Im Ersten Weltkrieg macht
Willinger als Offizier der k. u. k. Armee Porträtaufnah-
men von Offizieren und Militärkommandanten.
Kaum ist der Krieg zu Ende, zieht Wilhelm Willin-
ger – den ungarischen Vornamen Mór (Maurus) unter-
schlägt er fortan im deutschsprachigen Umfeld – von
Berlin nach Wien. Sein Ziel ist es, das florierende
Unternehmen weiter auszubauen. In Wien wird ein
zusätzlicher Standort des Familienbetriebs eingerich-
tet, der bald als Firmenzentrale fungiert. Später wird
eine Dependance in Paris dazukommen, auch die Au-
ßenstelle in Budapest wird weitergeführt. Das Berliner
Atelier wird zwischen 1920 und 1934 von seiner Frau
Margarete geleitet, die ebenfalls Fotografin ist. Ende
der 1920er Jahre arbeitet auch der Sohn, László Wil-
linger, geb. 1909, in der Berliner Niederlassung mit.2
Das neue Wiener Atelier eröffnet Wilhelm Willin-
ger selbstbewusst in bester Innenstadtlage, nämlich
in der Kärntner Straße 28, inmitten der mondänsten
Wiener Einkaufsstraße. Willinger baut das Unterneh-
men zunächst zusammen mit einem Kompagnon,
Hans Schnapper, auf. Im Oktober 1921 trennen sich
die beiden geschäftlich und Willinger wird zum Al-
leininhaber. Das Atelier beliefert die aristokratische
und bürgerliche Wiener Gesellschaft mit Porträts, es
spezialisiert sich aber auch auf die Theaterfotografie.
Angeboten werden nicht nur Schauspielerporträts,
sondern auch Szenenbilder von Stücken, die an den
großen Wiener Bühnen gespielt werden, etwa im
Burgtheater und in der Oper. Als führender Kopf der schnell wachsenden Fir-
ma steht Wilhelm Willinger längst nicht mehr selbst
hinter der Kamera, vielmehr führt er die Geschäfte.
Die tägliche Arbeit überlässt er angestellten Foto-
grafen und Assistenten. Von Wien aus dirigiert er in
der Zwischenkriegszeit ein beachtliches Fotoimpe-
rium – es ist das größte Unternehmen seiner Art
in ganz Österreich. Allein in der Wiener Zentrale
arbeiten zeitweise bis zu 30 angestellte Fotografen.
Weichenstellung in Richtung Fotoagentur
Die Karriere Wilhelm Willingers wäre nicht
weiter bemerkenswert, hätte er nicht schon früh
Entscheidungen getroffen, die den kommerziellen
Aufstieg seines Unternehmens in neue Bahnen
lenken werden. Wie viele andere Lichtbildner auch
beginnt er um die Jahrhundertwende als klassischer
Atelierfotograf. Er lebt in den ersten Jahren von jenen
Kunden, die zu ihm ins Atelier kommen. Aber bereits
vor dem Ersten Weltkrieg – das war bisher nicht be-
kannt – beginnt er neben seinem laufenden Fotobe-
trieb in Berlin, Bilder an die illustrierte Presse zu ver-
kaufen. Ab 1912 beliefert er v. a. die Ullstein-Presse
mit Schauspielerporträts, die im Atelier aufgenom-
men werden, aber auch mit Szenenfotos, etwa vom
Theater am Nollendorfplatz, die u. a. in der Zeitschrift
Die Dame erscheinen.3 Ebenfalls in diesen Jahren bie-
tet er bereits Pressebilder an, die nichts mit der Ate-
lierfotografie oder dem Theater zu tun haben. 1914
etwa verkauft er an Ullstein eine bemerkenswerte
Fotoserie, die ein thematisch vollkommen neues Ka-
pitel seiner fotografischen Tätigkeit eröffnet. Es ist
eine sozialdokumentarische Arbeit über Leben und
Alltag im Altersheim Berlin-Buch, die in der illus-
trierten Wochenendbeilage der renommierten bürger-
lich-liberalen Vossischen Zeitung veröffentlicht wird.4
Diese erscheint seit Anfang 1914 im Ullstein Verlag.
Mit diesem Bildbericht signalisiert Willinger, dass er
Handel mit Bildern ·
Die Rolle der
Fotoagenturen17
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang