Page - 37 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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werden muss? Wie nachhaltig sind diese Veränderungen? Im Ausnahmezu-
stand darf eine gemeinscha#liche Praxis nur in einem virtuellen Raum
stattfinden, sodass wesentliche Aspekte des Rituals wegfallen, wie die kör-
perliche, gleichzeitige Teilnahme der Gemeinde. Eine Distanz steht nun
zwischen dem Priester und den Gläubigen, räumlich und zum Teil auch
zeitlich.
Eine römisch-katholische Liturgie folgt einem vorgeschriebenen Ablauf.
Durch diese festgeschriebene Form entsteht im Laufe einer Messe eine be-
sondere Konstellation des Geschehens, die viele Parallelen mit einer Thea-
terau!ührung aufweist. Es findet ein Ereignis statt, das in Zeit und Raum
begrenzt ist. In diese Interaktion von Akteuren und Zuschauenden fließen
trotz der regulierten Form unvorhersehbare Variablen und Reaktionen
ein. Betrachtet man rituelle Handlungen aus dieser performativen Perspek-
tive, werden der soziale Charakter der Religionsgemeinscha# hervorgeho-
ben und die gesellscha#liche Rolle von religiösen Ritualen in den Vorder-
grund gerückt.
Gleichzeitiges Dasein, Flüchtigkeit und Kommunikation
Die medialen Bedingungen des Gottesdienstes ergeben sich an erster Stelle
aus der gleichzeitigen, leiblichen Anwesenheit von Priester und Gemein-
de. Diese Grundvoraussetzung wird bei einer Live-Übertragung der Mess-
feier aufgehoben: Rituelle Elemente wie die koordinierte Sprache – Ge-
betsformeln sowie einstimmiges Gebet und Singen – oder choreografierte
Gesten – Niederknien, Sitzen, Stehen, Zeichen des Friedens – können
nicht gemeinsam durchgeführt werden. Wenn die gemeinsame Anwesen-
heit an einem Ort entfällt, ist die rituelle Handlung den Gläubigen daheim
überlassen; sie werden nicht von der teilnehmenden Gemeinde beeinflusst.
Der Priester kann aber auch nicht auf spontane Emotionen der Teilneh-
mer:innen wie Lachen oder Weinen oder Ablenkungen wie Geflüster oder
Husten reagieren.
Aus der gleichzeitigen Anwesenheit von Akteur:innen und Teilnehmen-
den sowie ihrer Interaktion resultiert die Flüchtigkeit des Ereignisses, die
in der digitalen Übertragung verändert wird. Die Vergänglichkeit des Ritu-
als ergibt sich aus seiner zeitlichen Begrenzung. Doch die Räumlichkeiten
und die involvierten Objekte verleihen dem Ritual eine zeitliche Ausdeh-
nung: Das Kirchengebäude, der Altar, der Tabernakel und die liturgischen
Objekte bleiben auch nach dem Abschluss des Gottesdienstes bestehen.
Die involvierten Menschen, der Priester, die Ministranten und die Teilneh-
Digitale Au"ührungen des Ausnahmezustands
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133