Page - 54 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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Die mediale Darstellung des Pfarrers, des Kantors und der Kirche folgt
zwei Ansätzen: Zum einen wird Religion als orientierungssti#ende Le-
bensdimension behandelt. Angesichts der plötzlichen Bedrohung und
drastischen Veränderung des Alltags spendet sie Trost und Zuversicht.
Zum anderen trägt sie dazu bei, ein Gemeinscha#sgefühl zu formen.
Die TV-Dokumentation ist in ihrer narrativen Struktur vom Kontrast
einer vorpandemischen Normalität und einer bedrohlichen, ungewissen
Realität geprägt. Mit der Darstellung des Pfarrers und des Kantors inter-
pretiert die Reportage Religion als eine Form von Kontingenzbewältigung.
Damit wird Religion als eine Strategie vorgestellt, mit der das, was als un-
kontrollierbar, riskant oder unverfügbar gilt, mit Sinn versehen werden
kann und dadurch als bewältigbar wahrgenommen wird. Im Kontext der
Dokumentation wird die Corona-Pandemie als Krise charakterisiert. Ihr
bedrohliches Potential entfaltet sich in der Wahrnehmung des Unbere-
chenbaren und Unkontrollierbaren, das mit der Verbreitung des Virus
aber auch mit der Ungewissheit bezüglich der Zukun# einhergeht.
Sowohl der Kantor als auch der Pfarrer versuchen, der Pandemie einen
Sinn zu geben. Vor dem Hintergrund des christlichen Osterfestes verdeut-
lichen sie, dass das Alleinsein eine Annäherung an das Leben Jesu sein
kann und verweisen auf die christliche Ho!nung auf Auferstehung und
Erlösung, die analog zur Krise gedeutet werden kann. Das filmische Por-
trät des Pfarrers und der Kirche als Teil der Stadt kontrastiert bewusst den
Eindruck von Leere und Alleinsein. Der Pfarrer besucht eine Gaststätte,
die er zuvor gesegnet hat. Die O!-Stimme kommentiert:
Pfarrer Karl Schultz ist täglich auf dem Kietz unterwegs. Vor ein paar
Tagen hat er den Elbschlosskeller gesegnet. Die Kneipe, die immer
mehr zur festen Anlaufstelle für Hilfsbedür#ige wird.
Wir erfahren, dass der Segensspruch einen Ehrenplatz erhalten habe
(Abb. 9).
In einem Gespräch zwischen Pfarrer und Gastwirt wird der gemein-
scha#ssti#ende und alltagsorientierte Aspekt der Eucharistie betont. Der
Pfarrer sagt:
Aber weißt du, worauf ich mich freue? Wenn die ganze Scheiße vorbei
ist. […] Und wir hier ein Bier trinken.
Die TV-Reportage transferiert die Eucharistie, in der die Erlösung, Aufer-
stehung und Gemeinscha# Jesu gefeiert wird, in den Kontext des ö!entli-
chen Lebens. Das gemeinsame Feiern vereint den Pfarrer und den Gast-
wirt, die neue Formen der Verständigung entwickeln. Der Wirt schildert
einen Gegensatz zwischen seiner ursprünglichen Haltung gegenüber Reli-
Krise und Solidarität im ö"entlichen Raum
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133