Page - 94 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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Stadt Bergamo angrenzenden Kleinstadt, fragte die Kirche San Giuseppe
Artigiano dafür an.
Dieses schlichte sakrale Gebäude aus den 1960er Jahren ru# mit der ela-
borierten Betonstruktur den Einfluss des Brutalismus auf die italienische
Architektur in Erinnerung. Die Kirche befindet sich in einem Teil der
Stadt, der vom Übergang von einer Bauern- zu einer Arbeiterkultur ge-
prägt ist; der Name «St. Joseph der Handwerker» verdichtet diesen Bezug
zur Nachkriegszeit. Die Fotos aus dieser improvisierten Au%ahrungshalle
angesichts des Massensterbens in Norditalien sind zur Ikone der Krise ge-
worden. Sie kündigen plastisch an, was das Virus bewirken kann und mo-
tivieren Individuen und Gemeinscha#en dazu, etwas dagegen zu unter-
nehmen. Die potenziellen Folgen der Ansteckung auf die Bevölkerung
werden dabei auf unmissverständliche Weise sichtbar gemacht.
Der Kirchenraum wurde für diese ungewohnte Verwendung umfunk-
tioniert; die Bänke sind auf die Seite oder in die Mitte geschoben worden.
An den sonst schmucklosen Backsteinwänden hängen Bilder mit den ver-
schiedenen Stationen des Kreuzwegs, die die Passionsgeschichte Jesu visu-
ell in Erinnerung rufen.
Ein Priester segnet die Toten; ein Mensch im weißen Schutzanzug des-
infiziert den Boden und die Särge. Die zeitliche und räumliche Gleichzei-
tigkeit dieser Reinigungspraktiken, deren Bedeutung in ganz andersgearte-
ten Orientierungssystemen wurzelt, ist erstaunlich. Die unterschiedlichen
Handlungen verweisen auf verschiedene Umgangsarten mit dem Tod: Die
eine versteht den Tod als Übergang vom irdischen Lebensweg hin zu
einem ho!nungsvollen Jenseits, die andere betrachtet ihn als logistische
Herausforderung, als Verweis auf den verwesenden Körper, der möglichst
schnell beseitig werden muss.
Die Kirche als vorübergehende Au%ahrungshalle
Trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen an den Tod, die das Bild
zeigt: Die Särge sind alle gleich. Darin ruhen die Menschen, die dem Virus
erlegen sind. Die Identifikation der an Covid-19 verstorbenen Personen
wird mit Namen und groß geschriebenen Zahlen gesichert. Als Zusehende
können wir die Identität der Toten nicht erkennen. In dieser Aneinander-
reihung von gleichen Totenschreinen verschwindet die Persönlichkeit des
Einzelnen hinter den Holzwänden dieser vorübergehenden Ruhestätte.
Wir erfahren nicht, ob darin alte Menschen oder Leute, die in Spitälern ar-
beiteten, liegen; Individuen, die nach einem langen, erfüllten Leben Ab-
schied nahmen oder die durch den Tod von unerträglichem Leiden erlöst
Der Tod als mediale Inszenierung
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Title
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Paradoxien einer Krise
- Author
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Editor
- Anna-Katharina Höpflinger
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 134
- Categories
- Coronavirus
- Medien
Table of contents
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133