Page - 9 - in Zipper und sein Vater
Image of the Page - 9 -
Text of the Page - 9 -
darstellte. Links: Herr Zipper im Zylinder mit weißen Handschuhen, wie er
eben von einer Hochzeit oder von einem Begräbnis kam. Hier war er noch
junger Bräutigam, einen Blumenstrauß in weißer Tüte in der Hand. Dort ein
bereits ernster Vater, Arnold, den Kleinen, auf den Knien.
Noch öfter als der alte war der junge Zipper photographiert. Arnold, wie er
sechs Monate alt war, splitternackt, lächelnd, auf einem Bärenfell; Arnold als
Einjähriger auf dem Arm der Mutter; Arnold als Vierjähriger in den ersten
langen Hosen; Arnold als Sechsjähriger mit dem ersten Schulranzen, mit
Schiefertafel und baumelndem Schwamm; Arnold als Siebenjähriger mit dem
ersten Schulzeugnis; Arnold als Achtjähriger mit gekreuzten Beinen, zu
Füßen seines Lehrers, umgeben von seinen Schulkameraden; Arnold im
spanischen Nationalkostüm und als Radfahrer; als kleiner Reiter im
Hippodrom und als Chauffeur im Vergnügungspark; Arnold auf einem Esel
und auf dem Kutschbock; Arnold am Klavier und mit der Geige; Arnold mit
Pfeil und Bogen und Arnold mit Säbel; Arnold als kleiner Dragoner und als
kleiner Matrose; Arnold in allen Altern, allen Kleidungen, allen Lagen;
Arnold, Arnold, Arnold …
Weshalb, fragte ich, ist nicht Arnolds Bruder, der ältere, den man Cäsar
nannte, photographiert? Er hieß Cäsar, nach dem früh verstorbenen Bruder
seiner Mutter. Es schien, daß dieser Name den Knaben beschwerte, ihm
Aufgaben stellte, für die er nicht geboren war. Er mußte entweder ein Genie
sein oder ein Hund. Wer war imstande, mit solch einem Namen seinen Eltern
Freude zu bereiten?
Nein! Er bereitete ihnen keine Freude, wenigstens nicht dem Vater. Man
sah Cäsar selten zu Hause. Er trieb sich in den Straßen herum, man traf ihn
vor dem Eingang zum Zirkus Cavalli, vor den Kinos in den Vorstädten und in
der kleinen Gasse, in der jedes Haus ein Bordell war. Und er war im ganzen
vierzehn Jahre alt. Ich erinnere mich deutlich an sein rotes grobes Gesicht, in
das die Züge roh und provisorisch eingezeichnet waren, an seine kurze, von
vielen Runzeln zerknitterte Stirn, die aussah, als wollte sie falsche Sorgen
vortäuschen, an den merkwürdigen Gegensatz zwischen dem ungläubigen
Mund, der an eine traurige alte Sichel erinnerte, und den hellen, grünen,
bestialisch und irrsinnig glänzenden Augen. Als er fünfzehn Jahre alt war,
schlief er mit allen Dienstmädchen der Nachbarschaft, ein schwarzer Bart
sproßte aus allen Winkeln seines Gesichts, seine Augenbrauen wuchsen an
der Nasenwurzel zusammen. Er »wollte nicht lernen«. Der alte Zipper »nahm
ihn« aus dem Gymnasium und »gab ihn« in die Realschule. Hier geriet er mit
einem Mitschüler in Streit, zerschlug ihm das Nasenbein, ohrfeigte einen
Lehrer, der vermitteln wollte. Da »nahm« der alte Zipper Cäsar aus der
Realschule und »steckte« ihn in die Bürgerschule. Hier gab es mehrere
9
back to the
book Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110