Page - 15 - in Zipper und sein Vater
Image of the Page - 15 -
Text of the Page - 15 -
begeben hat?« Zwar hatten die Zippers ein Dienstmädchen, aber der Alte
wollte keine »fremden Gesichter beim Essen sehn«. Deshalb mußte die Frau
Zipper selbst die Speisen von der Küchentür zum Tisch bringen. Wenn sie die
Suppenterrine in die Mitte des Tisches stellte, sagte Zipper: »Etwas näher,
Madame, bitte, spielen wir doch nicht Versailles!« Manchmal sagte er: »Die
Serviette ist schon mindestens zwei Wochen alt! Ein anderer muß sie benützt
haben! Hier sind Spuren von Eiern, und ich esse keine Eier. Seit Jahren keine
Eier!«
An den Tagen, an denen ich eingeladen war, schien ihm ganz besonders an
einer Konversation gelegen zu sein. Er versuchte um jeden Preis, das
Schweigen seiner Frau zu brechen. Ja, er zwang sich sogar, ihr eine
Freundlichkeit zu sagen. An ihr aber glitt selbst seine Güte ab, wie ein
Tropfen Öl an vereistem Glas. Wenn Cäsar oder Arnold einen Fettfleck auf
ihre Kleider machten, unachtsam waren, ein Glas Wasser verschütteten, so
sagte der alte Zipper zu seiner Frau: »Sieh her, wie sich deine Kinder schon
wieder benehmen.« Seit einem Jahrzehnt trank er nach jedem Essen einen
Tee. Es mußte ein ganz besonderer Tee sein, das Glas nicht zu voll, damit
Zipper es am oberen Rand fassen konnte, ohne sich die Finger zu verbrühen.
War aber der Rand zu breit gelassen, so sagte er witzig: »Was kostet
ein ganzes Glas, Madame?« War der Tee zu hell, so schickte er ihn zurück,
damit er länger aufgebrüht werde. War er zu dunkel, so verlangte er warmes
Wasser. Er bekam es in einer metallenen Kanne, deren Henkel so heiß war,
daß er ihn mit einem Taschentuch anfassen mußte; und obwohl er wußte,
jedenfalls aus Erfahrung wissen mußte, daß der Henkel nicht zu fassen war,
griff er doch immer mit nackten Fingern nach ihm, fuhr erschrocken zurück,
schüttelte die Hand in der Luft wie einen weißen Vogel und durchbohrte seine
Frau dabei mit jenem Blick, mit dem man einen bedenkt, der uns auf ein
Hühnerauge getreten ist. Niemals vergaß der alte Zipper, sich über den Tee,
seine Zubereitung, die verschiedenen Arten, seine Heilkraft, seine
Schädlichkeit zu verbreiten. Mindestens sechzehnmal habe ich selbst aus
seinem Munde gehört, wie er sich einmal einen Teerausch angetrunken hatte.
»Es war allerdings«, schloß Zipper seine Erzählung, »kein Tee wie dieser
hier!« Und dabei sah er seine Frau an.
Wenn ich mir heute das Bild der Frau Zipper zurückrufe, sehe ich, daß sie
in einem Nebel gelebt hat, in einer Art von grauem trübem Heiligenschein,
wie er für Märtyrer paßt, die für lächerliche Zwecke und aus lächerlichen
Gründen Schmerz und Pein erdulden. Ich weiß nicht, ob sie ihre Kinder
geliebt
hat. Vielleicht waren sie ihr gleichgültig oder verhaßt, wie der Vater. Sie
schien mir mehr für den Schmerz dazusein als für die Liebe. Was die Kinder
15
back to the
book Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110