Page - 40 - in Zipper und sein Vater
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er sich aufrichtig nach seinen Absichten ausforschte, so mußte er zugeben,
daß ihm nichts gleichgültiger war als eine öde, geregelte Arbeit zu Hause.
Vielleicht mußte man in der Fremde härter arbeiten, aber es war die Ferne. Er
las viele Reiseschilderungen. Er hatte sie schon seit seiner Knabenzeit
gelesen. Aber niemals war der Wunsch zu reisen in ihm vorher erwacht. Erst
als er aus dem Krieg zurückkam, dieses Haus wiedersah, in dem er groß
geworden war, diesen Vater, der ihn erzogen, diese Mutter, die um ihn
geweint hatte, als er den Schatten des Bruders fühlte, der jetzt erst, nach dem
Tode, ein Mitglied der Familie geworden war; als Arnold dieses Land sah,
dessen Bürger er war, in dem es galt, jeden Augenblick irgendeiner Partei
anzugehören, irgendeine Gesinnung zu bezeugen, in Wirklichkeit also weiter
zu dienen für irgendein »öffentliches Wohl«, das man nicht kannte, das man
nicht sah und griff und das nur in den Zeitungen beschrieben stand, da erst
wollte er nach Brasilien.
Er war aber zu empfindlich, um im Vertrauen auf seinen Onkel
auszuwandern, wie es seine Eltern gewünscht hatten. Von allen Grundsätzen
der verkehrten Erziehung, durch die der Mensch verdorben wird, war einer
der dümmsten Arnolds Überzeugung geworden, jener Grundsatz, der in dem
geflügelten Wort seine törichte Form gefunden hat: »Selbst ist der Mann!« Er
hatte diesen amerikanischen Ehrgeiz, ganz allein, ohne Hilfe, etwas zu
erreichen. Den Grundsatz, der einen amerikanischen Milliardärssohn
veranlaßt, nicht im Alter von zwanzig Jahren so nützlich zu werden, wie er
sein könnte, sondern zuerst mit Streichhölzern zu handeln und den Weg, den
sein Vater schon gemacht hat, noch einmal zurückzulegen. Ein
widernatürlicher Ehrgeiz, etwa jenem vergleichbar, der einen jüdischen
Verteidiger für Zivilsachen zwingt, als erster einen noch nie erstiegenen
Alpengipfel ohne Führer zu erklimmen; einen Artisten, seine Kunststückchen
auf einem Aeroplan zu vollführen, obwohl sie auch auf dem Trapez
lebensgefährlich sind; einen Maurermeister, ohne Gerüst an einem
Wolkenkratzer zu arbeiten. Diesen Ehrgeiz besaß Arnold. Er wollte allein
nach Brasilien, und er träumte davon, eines Tages seinen Vater mit einem
Telegramm vom Bord eines Dampfers zu überraschen. Im Grunde war sie
vielleicht ein Erbe des alten Zipper, diese Freude an Überrumpelungen, ein
Vergnügen für kleine Bürger. Es gab in jener Zeit viele Agenten für
Auswanderer in romantische Fernen. Es gab Vereine von jungen Leuten, die
eine gemeinsame Fahrt nach Australien für einen Sonntagsausflug hielten und
die überzeugt waren, daß ihnen nichts unmöglich sei, weil sie dem Tod
entronnen waren. Einem dieser Vereine trat auch Arnold bei. Es schien ihm
besser zu gehen, seitdem er seinen Wochenbeitrag regelmäßig zahlte. Sein
Leben hatte wieder einen Sinn bekommen. Etwas zu verbergen war auch eine
Beschäftigung. Aber nach kurzer Zeit verschwand der Kassierer des Vereins
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110