Page - 57 - in Zipper und sein Vater
Image of the Page - 57 -
Text of the Page - 57 -
kindisch und nicht einmal in Träumen ehrgeizig. Er wollte nur die Luft des
Theaters atmen, wie er ins Kaffeehaus kam, nicht um Karten zu spielen,
sondern um die Luft des Kaffeehauses zu atmen. Er war Publikum mit
genauer Fachkenntnis. Wenn er einen Schauspieler kennenlernte, fühlte er den
Zwang, ihn spielen zu sehen. Sah er einen Schauspieler auf der Bühne, so
mußte er ihn kennenlernen. Kannte er einen Autor, so mußte er ihn lesen. Las
er ein Buch, so wollte er den Autor sehen. Sprach er mit einem Maler, so
besuchte er ihn im Atelier. Diese seine Neigungen und Leidenschaften waren
fast wissenschaftlich. Mehr als ein gedrucktes Buch interessierte ihn ein
Manuskript, mehr als ein vollendetes Werk ein unfertiges, mehr als der
verarbeitete Gegenstand die Veranlassung und die Ursache der Arbeit, mehr
als das Porträt das Modell. Es schien, als suchte seine unglückliche Natur zu
erfahren, wie es »gemacht würde«. Denn er besaß die Gabe der Empfindung
wie ein Schöpfer, das Interesse für das Handwerk wie ein Berufener. Aber er
konnte nichts hervorbringen. Er lebte wie in einem Angsttraum, wenn man
rufen will und nicht kann. Da er so eifrig forschte, wußte er vieles aus dem
Privatleben seiner Lieblinge. Trotzdem war er nie zudringlich. Denn sein
Eifer hatte die wissenschaftliche unpersönliche Kühle. Auch war er
verschwiegen wie ein Gelehrter, der die Ergebnisse seiner Forschungen
aufbewahrt bis zu dem Tag, an dem er mit ihnen seine Theorie aufzubauen
gedenkt.
Da ich Arnolds Interesse für das Theater kannte, wunderte ich mich nicht
darüber, daß ich ihn schon an einigen Abenden nicht im Kaffeehaus gesehen
hatte. Er muß noch vor dem Theater da gewesen sein, dachte ich.
Wahrscheinlich treten in dieser Woche Schauspieler auf, die ihn interessieren.
Wahrscheinlich ist er eingeladen worden.
Als er aber länger als eine Woche ausblieb, wurden selbst die Spieler
unruhig. Arnolds tragische Schweigsamkeit fehlteihnen. Für wen spielten sie
noch? Jedesmal, wenn ich an einem Tisch vorbeiging, hielt mich einer am
Rock fest und fragte: »Wo bleibt Zipper so lange?« Auch ich fragte. Die
Kellner hatten ihn nicht gesehen, die Kassierin auch nicht. Ja, am Büfett lag
Post für ihn, die er nicht abgeholt hatte.
Ich war schon lange nicht bei den Zippers gewesen. Es war Winter, ich
wußte, daß sie nicht heizten.
Oh, ich kannte diese Winter im Hause Zipper! Da saß der Alte im
Winterrock, die Frau Zipper hatte nach der Art der Bäuerinnen ihrer Heimat
einen Schal kreuz und quer um den Körper geschlungen, die Fensterscheiben
waren trüb, kleine Wässerchen rannen an ihnen herunter, sie waren nicht wie
aus Glas, sondern wie aus trübem Wasser, aus den Mündern der Menschen
kam ein grauer Hauch, ihre Hände waren rot, ihre Finger geschwollen, eine
57
back to the
book Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110