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Ich fragte ihn nur, ob er jetzt wieder ins Amt gehe. Er sagte, daß er seit drei
Tagen wieder arbeite, daß er aber noch keineswegs entschlossen sei, dort zu
bleiben, Staatsbeamter zu sein und auf »die Welt« zu verzichten.
Immerhin schien es mir, daß Arnold, ob er im Amt blieb oder nicht,
verliebt sei. Das heißt: daß er sich in einem Zustande befinde, den man seit
Jahr und Tag Verliebtheit nennt.
Er war es zum ersten Male in seinem Leben. Ich wunderte mich darüber,
weil er keine Veranlagung hatte, sich zu verlieben. Er brachte sozusagen in
die Liebe nicht die geringste Voraussetzung mit. Wenn sein Verstand nicht
besonders scharf und auf der Hut war, so war sein Temperament doch nicht
stark genug, ihn zu betäuben. Wenn Arnold auch sentimental von Natur war,
so besaß er doch Geschmack genug, die Sentimentalität zu bekämpfen. Wenn
er auch empfindlich und imstande war, einem fremden Einfluß, einem Reiz,
einer Stimmung zu unterliegen, so war er doch den Frauen im allgemeinen
gegenüber zu gleichgültig, als daß es möglich gewesen wäre, daß er einer
verfiele. Ich hatte schon längst beobachtet, daß Arnold einer der wenigen
Männer war, die in der Gesellschaft von Frauen ihre Haltung nicht
veränderten. Die Spieler interessierten ihn mehr. Die Frauen machten gerade
noch so viel Eindruck auf ihn, daß er feststellen konnte, sie gehörten nicht
zum männlichen Geschlecht. Damit war alles für ihn erledigt. Er glaubte zu
wenig an sich, um eitel zu sein wie alle andern Männer. Denn auch um sich zu
verlieben, muß man ein wenig eingebildet sein.
Ich kam schließlich zu dem Ergebnis, daß Arnold sich aus Verzweiflung
verliebt hatte, ähnlich wie einer, dessen Natur sich gegen den Alkohol sträubt,
aus Verzweiflung ein Trinker wird. Um aus der monotonen Tragik, in der er
lebte – aus der er beinahe bestand –, in eine bewegtere zu gelangen, mußte er
nach einem altbewährten dramatischen Mittel suchen. Wahrscheinlich war er
sich nicht darüber klar, während er es tat. (Aber auch, wenn man selbst die
Gründe seiner Tat nicht kennt, so sind sie doch ihre Gründe.) Arnold hatte
nichts anderes getan, als was ich ihm vor einigen Wochen gesagt hatte.
Unfähig, wie er war, eine Frau zu finden, kam er auf den bequemen Ausweg,
sich an eine zu erinnern, die er vor zwölf Jahren gefunden hatte. Zu
gleichgültig, vielleicht auch zu faul, um eine zu wählen, kehrte er zu einer
zurück, von der er glaubte, sie wäre ihm schon bekannt genug und ersparte
ihm die Arbeit einer Wahl. Zu schwach, eine neue zu erleben, weckte er
einealte wieder auf. Es war sein Schicksal, kein Zweifel. Sah er sich schon
einmal gezwungen, aus dem törichten Gleichmut in eine Leidenschaft zu
fliehen, so suchte er nach der bequemsten aller Leidenschaften: derjenigen, in
der man schon heimisch ist. Nachdem ich diese Erklärung aufgestellt hatte,
blieb mir nichts anderes übrig, als Erna kennenzulernen.
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110