Page - 67 - in Zipper und sein Vater
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Niemandem mehr Rechenschaft geben über den Verlauf des Tags, wenn man
spät in der Nacht in sein Zimmer kam. Nicht mehr tausend gleichgültige
Fragen hören, dieman der Wahrheit gemäß beantworten könnte – so harmlos
sind sie – und auf die man doch mit einer Lüge erwidert, nur weil man dem
Fragenden die Wahrheit nicht gönnt; den tausend Verwicklungen entgehen,
die dadurch entstehen, daß man morgen vergißt, was man heute gesagt hat;
dieser törichten und zudringlichen Neugier der Mutter entrinnen, die an der
Jugend der Tochter ihre eigene Jugend wieder aufwärmen will; diesem
lächerlichen Stolz des Vaters, den sein Glaube an die starke Persönlichkeit der
Tochter nicht hindert, sie wie ein ahnungsloses Kind zu behandeln.
Jetzt kam Erna nach Hause, wann sie wollte. Der Beruf, für den sie sich
vorbereitete, reichte in eine so ferne Welt hinüber, daß ihre Eltern es
aufgaben, etwas zu erfahren. Das war kein Mädchenlyzeum, das die Mutter
auch besucht hatte. Das war »die Bühne«, die nach Sünde roch, fernen
unbekannten Reichtümern, einem Glanz, der einen Untergang begleitet oder
ein großes Glück – beides so fern von allen bürgerlichen Möglichkeiten, daß
man sich fast über das Glück nicht freuen, den Untergang nicht beklagen
kann. Diese Welt, für die Erna jetzt rüstete, lag außerhalb der Kontrolle ihrer
Eltern. Sie selbst war schon ihrer Macht, ihrer Liebe, ihrem Stolz und ihrer
Torheit entgangen.
Weil sie klug war, fürchtete sie nichts so sehr wie ihren eigenen
unbewußten Rückfall in eine der tausend häßlichen Formen ihrer Heimat. Sie
beobachtete sich unaufhörlich, aus Furcht, an sich selbst eine Ähnlichkeit mit
ihrer Mutter zu finden. Vor Fremden log sie ihre Eltern in einfache Menschen
ohne Ansprüche um. Sie fand diesen Ausweg glücklich – der andere nämlich,
sein Haus als vornehm auszugeben, war schon zu banal und jeder kleinen
Schauspielerin geläufig.
»Wenn man aus einem so einfachen Haus kommt wie ich –«, sagte sie
häufig, auch wenn es vollkommen überflüssig war. Am liebsten wäre es ihr
gewesen, die Welt glauben zu machen, ihr Vater sei ein Analphabet und ein
armer Holzhacker. Es war nach der Revolution Mode bei der Jugend, die sich
mit Literatur und Kunst befaßte und gerne dem Proletariat nahesein wollte,
weil es eine kurze Zeit siegreich aussah, seine Abstammung nach unten zu
verlegen. (Ich kannte den Sohn einesreichen Juweliers, der behauptete, sein
Vater wäre ein Uhrmacher.)
Das schien Arnold nicht zu merken. War sein Vater nicht imstande,
Ursachen und Wirkungen zu erkennen, so war es Arnold nicht gegeben,
Lügen von Wahrheiten zu unterscheiden. Welchem Liebenden ist es übrigens
möglich?
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110