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Argumente des Autors auf die Zuschauer machten, zu körperlich nahe und
unangenehm, wie ihr Schweiß und ihr Geruch. Es ist, als wenn tatsächlich
die Absonderung der menschlichen Körper abhängig wäre von dem mehr
oder weniger künstlerischen oder geistigen Eindruck, den sie empfangen. Die
Menschen lachen anders über einen groben als über einen feinen Witz. Die
Träne, die eine Frau aus dem Volk über eine plumpe Tragik vergießt, hat eine
gröbere Beschaffenheit als jene, die sie im Anblick einer echten, also stilleren
Trauer verlieren könnte. In diesem Stück war Erna nun unmittelbar die
Ursache der Stimmungen, die das Publikum beherrschten. Sie spielte ihre
Rolle gewiß glaubhafter, als sie der Autor geschrieben hatte. Aber gerade weil
sie so außerordentlich geeignet war, die plumpen Absichten eines plumpen
Schriftstellers so zu verfeinern, daß sie fast wie künstlerische erschienen,
erkannte ich die Erna aus dem Literatencafé, ertappte ich sie geradezu. Sie
besaß etwa die Fähigkeiten einer geschickten Vorstadtmodistin, mit billigem
Material nahezu vornehme Wirkungen im Schaufenster zu erzielen. Eine
doppelte Möglichkeit zu gefallen. Die Leute sind von der Billigkeit des Stoffs
angezogen und von dem falschen Beweis, daß er trotzdem vornehm sein
kann.
Im Leben war Erna zart. Auf der Bühne erschien sie gebrechlich, aber mit
Grazie. Im Leben war sie elastisch und widerstandsfähig. Im Spiel war sie
spröde und hilflos. In der Gesellschaft von Männern benahm sie sich so, daß
jeder sich mit ihr beschäftigen mußte, ja, daß jeder glaubte, sie hätte ihm ein
Amt zugewiesen. Auf der Bühne sah sie so aus, als würden sie alle Männer
verlassen, so, daß jeder männliche Gast im Parkett ihr zu Hilfe auf die Bühne
hätte eilen mögen. Am Nachmittag sprach sie mit einer tiefen Stimme, die aus
dem Herzen zu kommen schien. Am Abend mit einer hohen, hellen, die aus
der Angst kam. Die wohlüberlegte Koketterie, mit der sie sich bei Tag klug
und geistreich machte, verwandelte sich am Abend in eine andere, aus der
eine edle, stille, demütige Einfalt kam. Sprach man mit ihr und kam die Rede
auf einen ihr unangenehmen Gegenstand, so wich sie aus, mit der Elastizität
eines Gummiballons, der scheinbar nachgibt und die Luft, das Material seines
Widerstandes, verbergen kann, ohne sich merklich zu verändern. Spielte Erna
aber, so schien es, daß sie sich mit einer wonnigen Ahnungslosigkeit gerade
den Gefahren aussetzte, die sie am Tag so vorausschauend abzuwehren
wußte. Man hatte Angst um sie. Man wollte ihr zurufen: Gehen Sie nicht!
Sagen Sie das nicht! Nehmen Sie sich in acht! Lügen Sie ein bißchen! Ihr, die
sich immer in acht nahm und die meistens log, nicht weil sie so viel zu
verbergen hatte, sondern weil sie genau wußte, daß die Lüge reizvoller ist als
die Wahrheit, auch wenn man diese kennt und jener nicht glaubt.
Trotz ihrer großen Fertigkeit schien es mir doch, als könnten auch andere –
nicht nur ich, der ich sie kannte, sondern auch Kritiker zum Beispiel
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110