Page - 85 - in Zipper und sein Vater
Image of the Page - 85 -
Text of the Page - 85 -
»Als diese Laune mit den Mädchen kam, war ich ahnungslos. Ich dachte, es
wären harmlose Freundschaften. Wir wohnten damals noch zusammen, mein
Zimmer lag neben dem ihrigen. Ich schlief sehr tief und erwachte plötzlich.
Es schien mir, daĂź jemand geschrien habe. Ich klopfte an die TĂĽr. Man schien
mich nicht zu hören. Ich öffnete, sie erschraken, die kleine Anny war bei ihr.
›Was suchst du da?‹ sagte Erna. Ich entschuldigte mich. ›Ich habe rufen
hören‹ – und wie ich in mein Zimmer zurückkomme, liegt die Anny in
meinem Bett.
Am nächsten Morgen bin ich in die Pension gezogen.«
Er schwieg wieder. Er trat in einen großen Blätterhaufen und wirbelte ihn
auf.
Dann begann er: »Ich verstehe sie dennoch. Niemand kann sie so gut
verstehen – und ich warte.«
»Worauf?«
»Ich warte auf den Tag, an dem sie mich rufen wird. Jeden Tag glaube ich:
jetzt kommt sie. Immer, wenn in meinem Büro das Telephon läutet, zögere ich
einen Moment, bevor ich den Hörer fasse. Seit einem Jahr lebe ich in dieser
Spannung. Wenn ich nach Hause gehe, auf der Treppe stockt mein Herz. Jetzt,
denke ich, wartet sie drinnen. Dann sehe ich das leere Zimmer. Ich schaue
noch einmal genau in alle Ecken, schlage die Vorhänge zurück, denn ich
erinnere mich – einmal, ein einziges Mal – an eine Nacht, in der sie mit mir
lustig war. Da hatte sie sich auch hinter dem Vorhang versteckt.«
»Und wenn dieser Tag niemals kommt?« »Das gibt es nicht. Ich kenne sie
genau. Sie wartet selbst auf diesen Tag. Sie weiĂź es gar nicht. Ich kenne sie
besser, als sie sich selbst kennt.«
Wir kamen an ihr Haus. Das Dienstmädchen sagte:
»Die gnädige Frau ist gestern nacht abgereist. Hier ist ein Brief.«
Arnold steckte den Brief in die Tasche, ohne ihn anzusehen. Wir gingen
den halben Weg schweigsam zurĂĽck. Dann kehrten wir in ein Kaffeehaus ein.
Da las Arnold.
»Sie hat plötzlich wegfahren müssen«, sagte er. »Es wird ein Film in Ischl
gedreht. Ich weiß aber nichts davon. Kann es ›Der tödliche Berg‹ sein? Oder
›Im Schatten der Riesen‹? – Es ist nämlich ein Märchenfilm, dort soll sie die
Prinzessin sein.« –
Was hatten wir noch zu sprechen? Wir gingen auseinander.
nbsp;
85
back to the
book Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Ă–sterreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110