Page - 89 - in Zipper und sein Vater
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sich erfüllen!«
An dem Tag, an dem Arnold das Telegramm erhalten hatte, bekam auch ich
eines, von Arnolds Vater. »Ankomme Mittwoch elf Uhr vormittags,
entschuldigt Störung, Näheres mündlich!« lautete die Depesche. Ich mußte
den alten Zippererwarten – ich war übrigens auch neugierig genug, ihn zu
sehen. Er kam mit einem eleganten Lederkoffer, den er sich eigens von einem
Geschäftsfreund für diese Reise geliehen hatte. Er trug eine englische
großkarierte Reisemütze und den Stock mit der Krücke aus echtem Elfenbein
samt einem Schirm in einem Etui. Man konnte ihn für einen gewiegten
Weltreisenden halten.
Er stieg aus dem Coupé, seinen Chronometer in der Hand – und ich hatte
ihn kaum begrüßt, als er sagte, während er mit dem Zeigefinger auf das
Uhrglas klopfte: »Genau eine Minute und zehn Sekunden Verspätung!
Übrigens habe ich gemerkt, daß die elektrischen Uhren auf allen Stationen
verschiedene Zeiten zeigen. Ich frage mich, wozu da die Elektrizität!« Und
ehe wir in einen Wagen stiegen, sagte er: »Zu Arnold!« – in einem Ton, aus
dem zu entnehmen war, daß der alte Zipper glaubte, jeder Chauffeur müßte
die Adresse Arnolds kennen.
»Ich hätte ja Arnold selbst telegraphiert!« sagte der alte Zipper, »aber ich
glaube, es ist besser, ich überrasche ihn. Er hat mir geschrieben, daß seine
Frau verreist ist, also ist keine Störung zu befürchten.«
Ich erzählte dem alten Zipper nicht, daß Arnold niemals mit seiner Frau
zusammen wohnte. Es hätte Mühe gekostet, seinen Fragen standzuhalten oder
auszuweichen. Ich vermied es überhaupt, mit Zipper zu sprechen. Ich ließ ihn
reden und dachte über ihn nach. Er hatte sich eigentlich nicht verändert. Er ist
wieder jünger geworden. Der Krieg, der Tod seines jüngeren Sohnes, das
Unglück seines älteren – das er doch fühlen müßte –, Sorgen, Schulden und
die Beschwerden des Alters hatten ihm nur eine Trauer umgelegt, wie eine
Kleidung, wie einen Mantel, den man sich anzieht, weil es draußen kalt ist,
nicht weil man selbst friert. Und wie es Menschen gibt, denen ein
Klimawechsel gar nichts bedeutet und denen es im Winter ebenso heiß ist wie
im Sommer, nur daß sie der allgemeinen Sitte zufolge im Winter einen Pelz
tragen und im Sommer ohne Weste gehen, so mochte es Menschen geben, die
einen gedankenlosen Frohsinn in ihrem Leib trugen wie die Eigentemperatur
und die sich nur in eine kalte Luftschicht von Trauer hüllten, wenn ihnen
etwas Trauriges zustieß. Ja, ich hatte mich geirrt! Ich hatte den Alten für
einen Erledigten gehalten, vielleicht geschah es deshalb, daß ich mich mit der
Intensität dem Jungen zuwandte, die ich früher nur für das Studium des Vaters
aufgebracht hatte. Aber der Vater war noch eines intensiven Studiums würdig
genug!
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110