Page - 102 - in Zipper und sein Vater
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wie sanft mußte er jetzt mit seiner Frau umgehen, vielleicht lebten sie
zusammen wie ein paar alte Tauben. Sie konnten keine giftigen Pfeile mehr
gegeneinander abschießen, das Gift war ungefährlich geworden, oder die
Körper waren schon daran gewöhnt. Kam Zippers Bruder aus Brasilien noch
zu Ostern? Wohnte der Sekretär Wandl noch im Salon?
Wenn ich daran dachte, daß ich bald wieder bei den Zippers im
»Speisezimmer« sitzen sollte, so war es mir, als riefe ich einen alten
langweiligen Schmerz wieder zurück, der einen die ganze Kindheit lang
begleitet hat, etwa geschwollene Mandeln, und dem man dennoch ein paar
sorglose Stunden im Bett zu verdanken hat. An den vielen Veränderungen im
Hause Zipper, an den traurigen Resultaten der traurigen Bemühungen, die
schon immer eine falsche Fröhlichkeit vorgetäuscht hatten, an diesen
zuschande gewordenen Hoffnungen, deren Farbe schon immer einen falschen
Schimmer gehabt hatte, als wären sie nicht grün von Natur, sondern nur grün
gemalt – an diesem traurigen Wechsel ermaß ich die Zeit, die ich selbst
zurückgelegt hatte. Nun kam ich bald in das Alter, in dem Zipper schon ein
Vater gewesen war. Mir aber kam es immer noch vor, daß ich mit Arnold in
die Schule gehe. Rechts an der Ecke saß er, in der dritten Bank.
Ich hatte eine gewisse Zärtlichkeit für den alten Zipper, er war gut zu mir
und manchmal fröhlich mit mir gewesen. Er hatte gesagt: »Zeig mir mal deine
Hand her, du hast dich ja verletzt? Wir wollen in die nächste Apotheke gehen
und etwas draufgeben lassen.« Und als unsere Marschkompanie abging, rief
er noch: »Sieg in Lublin!« – Alles war falsch gewesen, was er unternommen
hatte. Er kaufte in der Apotheke etwas Falsches für die verwundete Hand, und
er tröstete uns mit einem Sieg, der uns nichts half. Seine Witze waren nicht
heiter, sein Ernst war lächerlich, sein Ehrgeiz rannte schief zum Ziel, er war
ein Redner mit einem schlechten Gedächtnis, ein Tischler, der nichts
herzustellen wußte, ein Geigenmacher, der nur ein Lied spielte – – und dieses
Lied war traurig, und bei diesem Lied war er munter. Aber er hatte doch
meine Tage ausgefüllt. Arnold hatte ihn mir manchmal geliehen.
Ich ging am frühen Vormittag zu Zipper, weil ich wußte, daß er nach einer
alten Gewohnheit um elf Uhr durch die Straßen spazierte, daß er nach dem
Essen im Kaffeehaus saß, daß er am Abend seine Freikarte im Kino ausnützte.
Ich war etwa zehn Schritte vom Haus entfernt, hellgelb lag die Sonne auf der
Straße, da sah ich, wie man einen schwarzen Kasten in einen schwarzen
Wagen lud, zwei Männer in schwarzen Zylindern stiegen dann auf den Bock,
die Zügel strafften sich, und hurtig rollte der Totenwagen im Sonnenglanz
dahin.
Kein anderer als Zipper war gestorben.
Der Galanteriewarenhändler erzählte es mir. Vor einer Woche war die Frau
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110