Page - 108 - in Zipper und sein Vater
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Friedensschlüsse, die Politik. Sie, die Jungen, waren tausendmal gescheiter,
aber müde, halbtot, sie mußten ausruhen. Sie hatten nicht, wovon zu leben. Es
war gleichgültig, ob Sie gefallen oder heimgekehrt waren. Und wohin waren
Sie heimgekehrt? – In Ihre Elternhäuser!
Erinnern Sie sich an diese schauderhaften Elternhäuser! Haben Sie jemals
die Bibliothek der Zippers gesehn? Ich habe oft mit den Bänden gespielt. Da
waren drei prachtgebundene Jahrgänge ›Moderne Zeit‹, das ›Deutsche
Knabenbuch‹, ›DerTrompeter von Säckingen‹ – welch eine Literatur!
Erinnern Sie sich an die Kommode? Wir haben zu Hause eine ähnliche. Wenn
ich ein Meter von ihr entfernt bin, fürchte ich mich schon vor ihren Kanten.
Welch lebensgefährliche Möbel! Welch klirrender Hängeleuchter mit
elektrisch beleuchteten Kerzen aus Porzellan, aber gedreht wie Wachs! Diese
Kalender, die jedes neue Jahr vor den Schreibtisch gehängt wurden! Und
diese abonnierten Blätter mit den Leitartikeln. Mein Vater kann heute noch
nicht einschlafen, wenn er nicht weiß, was – ›Er‹ gesagt hat. ›Er‹ ist das
absolute Er hinter dem Leitartikel. ›Er‹ ist dort, wo man alles weiß, ›Er‹ ist im
Grunde genau so ein törichter kleiner Bürger wie sein Leser.
Arnold ist der junge Mann der Kriegsgeneration. (Kommen Sie, gehen wir
ein wenig.)«
Wir gingen in den Park zurück. P. sprach lange. Er versuchte Arnolds
Gleichgültigkeit, seine Trauer, seine Unentschlossenheit, seine Schwäche,
seine Kritiklosigkeit auf die Erziehung zurückzuführen und auf den Krieg.
Die Sonne stand sehr hoch, die Kindermädchen rüsteten, nach Hause zu
gehen, die Mittagsstunde brach an. Ich hörte, mit welcher Unerbittlichkeit P.
die Menschen aus der Zeit zu erklären wußte. Zu dieser Entschiedenheit hatte
er vielleicht mehr Recht als ich, als jeder andere, weil er ein Sterbender war.
Er mußte zu jeder Zeit mit dem Urteil über alle Erscheinungen fertig sein,
heute noch, zu jeder Stunde erwartete er den Tod.
Ich widersprach ihm nicht, ich gab ihm nicht recht. Ich sagte nur:
»Hätte ich einen Vater gehabt, ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.« (Zu
einem ganz kleinen Teil war übrigens der alte Zipper mein Vater.) »Sie stellen
sich so hoch über die Menschen, daß Sie nur ihr Schwarzes und ihr Weißes
sehen, ihre Schuld oder Unschuld. Sie richten wie ein Gott und wie ein
Richter: nach den Absichten und nach den Taten. Wir aber, die wir im Krieg
waren, richten nach dem Stoff, aus dem die Menschen gemacht sind.
Wir waren nicht nur müde und halbtot, als wir heimkamen, wir waren auch
gleichgültig. Wir sind es noch. Wir vergaben nicht unseren Vätern, wie wir
den jüngeren Generationen nicht vergeben, die uns nachrücken, ehe wir noch
unsere Plätze hatten. Wir vergeben nicht, wir vergessen. Oder noch besser:
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110