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vom 08.04.2022, aktuelle Version,

Keuschheitskommission

Ignaz Parhamer, erster Praeses der Keuschheitskommission von 1752 bis 1753

Die Keuschheitskommission, oder auch das Keuschheitsgericht beziehungsweise Zuchtgericht, war ein von 1752 bis Anfang des 19. Jahrhunderts in Wien bestehender Zweig der Gerichtsbarkeit, der Prostitution, außerehelichen Geschlechtsverkehr, anstößiges Verhalten und Homosexualität bestrafte und zensierte. Intention der Kommission war die Hebung von Sittlichkeit und Glaube sowie die Vermeidung von Kindstötungen.

Ziele und Organisation

Johann Michael Mettenleiter: Die Untersuchungs-Kommission

Kaiserin Maria Theresia errichtete nach ihrer Thronbesteigung eigene Gerichtsbarkeiten zur Hebung von Sittlichkeit und Glauben parallel zu den Haugwitz-Reformen.[1] Die Einrichtung eines Keuschheitsgerichtes beruhte auf lokalen Traditionen. Bereits Ferdinand I. hatte 1560 unter dem Einfluss der Jesuiten Keuschheitskommissionen eingesetzt. Auch in Reichsstädten, darunter Hamburg, Nürnberg und Straßburg, gab es Sittengerichte.

Die Keuschheitskommission wurde mit Edikt von 12. Februar 1752 als eigene Hofkommission eingerichtet.[2] Den mit eigenen Richtern besetzten Gerichten arbeiteten Keuschheitskommissare, von denen es nach Casanova 500 gab, zu. Sie hatten weitreichende Befugnisse, einschließlich des Zutrittes zu Privathäusern und Wohnungen und stützten sich auf zahlreiche Denunzianten und Spitzel.

Zum ersten Präsidenten der Keuschheitskommission wurde der Jesuit Ignaz Parhamer ernannt. Im Mai 1753 wurde die Keuschheitskommission in die Repräsentation und Kammer in Österreich nieder der Enns unter ihrem neuen Präsidenten Heinrich Wilhelm von Haugwitz inkorporiert. Ab 1759 wurde sie von den Statthaltern von Niederösterreich geleitet. Graf Franz Ferdinand von Schrattenbach (1707–1785) amtierte von 1759 bis 1770. Ihm folgte Christian August Graf von Seilern von 1770 bis 1779.[3] Der Statthalter war dem Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz unterstellt.

Die in einem großen Raum im Wiener Justizpalast aufbewahrten Akten der Keuschheitskommission gingen im Juli 1927 beim Wiener Justizpalastbrand verloren.[4] Die Aktivitäten der Kommission und ihrer Ausführenden lassen sich heute daher nur mehr durch literarische Behandlungen, Tagebucheinträge, Memoiren und zeitgenössische Satiren nachvollziehen.

Hauptleidtragende waren die Wiener Prostituierten, deren Zahl im theresianischen Wien auf 10.000 geschätzt wird. Bei Schädigung des Freiers oder seiner Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten drohten Abschneiden der Haare und von Ohren, Teerung des Kopfes, Auspeitschungen vor der nächsten Kirche oder im schlimmsten Fall und bei Rückfall die Deportation ins Banat mit den sogenannten Temeswarer Wasserschüben. Bürger und Bürgersöhne wurden, sofern sie nicht durch Bestechungen davonkamen, in der Regel zu Geldstrafen verurteilt. Mit aller Härte bis hin zur Todesstrafe ging die Kommission gegen Ehebrecher, Sodomiten, Homosexuelle und religionsüberschreitenden Sexualverkehr vor.[5] Wiederholt wird die Keuschheitskommission in den zeitgenössischen Quellen als Zensurstelle benannt. Betroffen waren Tänzerinnen wie Santina Zanuzzi,[6] Choreografen wie Noverre und Tilly sowie Charles Hyam, der guttrainierte Sohn des Kunstreiters und Schaustellers Hyam, genannt Hyam der jüngere.[7][8] Ambulante Theatercompanien wurden systematisch überwacht und immer wieder abgeschoben.

Ein weiterer überwachter Wiener Fokus war der Prater. Auf Anordnung der Keuschheitskommission wurde der Buschbestand in der Umgebung so weit ausgedünnt, dass Übersicht für eine Schar von Aufpassern bestand. Nach Johann Kaspar Riesbeck wurden dort ertappte ledige Liebespaare vor die Keuschheitskommission geladen und bei Überführung zur Ehe gezwungen. Mit dieser Maßnahme sollten Kindstötungen vermieden werden.[9]

In Folge der Verhandlung zum Donnerbrunnen ließ die Keuschheitskommission dessen Skulpturen aufgrund ihrer anstößigen Nacktheit 1773 entfernen. Sie wurden erst 1802 wieder aufgestellt.

Sitz der Keuschheitskommission

Mit der Eingliederung in die Präsentation und Kammer unter der Enns wurde die Keuschheitskommission vom Sitz des Präsidenten oder Statthalters im Palais Niederösterreich aus geführt. Nach den Protokollen der Josepha Amprukin fanden die Inhaftierung, das Verhör, die gynäkologischen Untersuchungen, die Züchtigung und der abschließende Verweis in der Schranne am Hohen Markt 10–12 statt. Das bestätigt die Annahme Alfreth von Arneths, dass das Keuschheitsgericht ein Zweig der allgemeinen Wiener Gerichtsbarkeit war.[10] Der Kupferstich „Die Züchtlinge in Wien, welche zum Gassenkehren verurteilt worden sind“ aus dem Jahr 1782 von C. Schütz zeigt unter Berücksichtigung einer zahlenmäßig übertriebenen Klientel ein realistisches Bild des Tribunals und seiner Zusammensetzung.

Casanova in Wien

Sehr aufschlussreich sind die Kapitel in Giacomo Casanovas Memoiren zu seinen Wien-Aufenthalten. Der Venezianer wurde bereits 1753 beim ersten Wildpinkeln überrascht und von einem Keuschheitskommissar mit Rundperücke auf die Ordnungswidrigkeit hingewiesen. Am 23. Januar 1767 wurde Casanova von Graf Schrattenbach vorgeladen und mit grober Herablassung aus Wien ausgewiesen. Graf Kaunitz, an den sich Casanova gewandt hatte, bewilligte lediglich einen Aufschub um wenige Tage. In seinen Memoiren resümierte Casanova: „Schändliche Spione, die man Keuschheitskommissare nannte, waren die unerbittlichen Quälgeister aller hübschen Mädchen; die Kaiserin hatte alle Tugenden, nicht aber die Duldsamkeit, wenn es sich um unerlaubte Liebe zwischen Mann und Frau handelte“[11] und „Wenn auch nach den Wahrheiten unserer Religion die große Maria Theresia in das eingeht, was man Ewigkeit oder jenseitiges Leben nennt, muß sie verdammt werden; und das auch dann, wenn sie keine andere Sünde begangen hat, als auf tausenderlei Weise die armen Mädchen zu verfolgen, die aus ihren Reizen Nutzen ziehen.“[12]

Affäre Schulenburg-Esterhazy

Die Grundhaltung der Kaiserin Maria Theresia[13] trat insbesondere in der Affäre Schulenburg-Esterhazy zu Tage. Ferdinand Ludwig Graf Schulenburg-Oeynhausen hatte eine von der Kaiserin gestiftete Ehe des Hochadels durch eine Entführung und Schwängerung torpediert. Auf persönliche Intervention der Kaiserin wurde der Graf 1775 zum Tod verurteilt. Durch Verwendung des Ehemannes wurde das Todesurteil doch noch in eine Deportation umgewandelt.

Der Kriminalprozess Zalheimb

In den Akten des Zalheimb-Prozesses von 1786 haben sich die Verhörprotokolle der Keuschheitskommission zu den Verhaftungen des Opfers Josepha Amprukin aus den Jahren 1769, 1770 und 1772 erhalten. Sie sind als Anhang B der Publikation des Prozesses beigefügt.[14]

Nachfolgen und Ende

Zum Ende der Keuschheitskommission finden sich unterschiedliche Angaben, die Zeitpunkte zwischen 1769 und 1802 nennen. Der letzte Temeswarer Wasserschub erfolgte Ende 1768. Danach erfolgte der Schub der Prostituierten nur noch vor die Tore. Kaiser Joseph II. hob die meisten theresianischen Sittengesetze auf und begrenzte so den Einfluss und die Strafgebung der Keuschheitskommission. Erst Franz II. soll die Sondergerichtsbarkeit der Keuschheitskommission nach 50-jährigem Bestehen Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig abgeschafft haben.

Eduard Nusser kam 1863 in seiner Abhandlung über die Problematik der Prostitution in Wien zum rückblickenden Schluss: „Es ist eine Tatsache, daß diese Einrichtung ihren Zweck völlig verfehlte, sie stiftete Familienunglücke aller Art, sie beförderte nur die allgemeine Unsittlichkeit, indem sie öffentliche Skandale erregte, die raffiniertesten Intrigen erzeugte und das weibliche Geschlecht den Wünschen der Männer nur noch geneigter machte.“[15]

Quellenlage

Es wurde immer wieder behauptet, die Keuschheitskommission gehöre zur Wiener Stadtfama, da sich die Akten- und Beleglage tatsächlich äußerst schlecht darstellt. Alfred Ritter von Arneth, zunächst selbst zweifelnd, fand in einem Brief des venezianischen Gesandten Correr vom 19. Mai 1753 die Angabe, soeben seien die Repräsentation und Kammer von Österreich nieder der Enns mit der bisherigen Sicherheits- und Keuschheitskommission zusammengelegt worden.[16] Friedrich II. verwertete die Keuschheitskommission ab 1758 zweimal satirisch. David Hume berichtete über ihre Einführung irritiert in Schottland. Der ausführlichste Erfahrungsbericht stammt von Giacomo Casanova, einem der genauesten und verlässlichsten Schilderer des privaten Lebens seiner Zeit.[17] Casanovas Schwierigkeiten mit der Keuschheitskommission von 1766/67 werden auch brieflich von Da Ponte bestätigt. Jean Georges Noverre beschwerte sich 1767 brieflich beim Fürsten Kaunitz über die Zensur seiner Ballettszenarien.[18] Freiherr Pilati von Tassulo wollte 1771 keinen Augenblick länger in der Stadt bleiben, nachdem er von seinem Wirt über das Wirken der Keuschheitskommission aufgeklärt wurde. Die erhaltenen Protokolle der Keuschheitskommission zu Josepha Amprukin zeigen exemplarisch die Bespitzelung und das Vorgehen der Kommissare in den Jahren 1769, 1770 und 1772. Josepha Ambrukin wurde viermal wegen eigentlicher Unachtsamkeiten verhaftet, gynäkologisch untersucht und mit Rutenschlägen gezüchtigt. Zum Ballettmeister Jean Tilly haben sich ausnahmsweise die Akten von 1774 bis 1775 im Archiv des Innenministeriums erhalten.[19] Friedrich Nicolais, Johann Kaspar Riesbecks und Johann Friedels Berichte beruhen auf deren Wien-Besuchen Anfang der 1780er Jahre, in denen sie das Wirken der Kommission immer noch feststellten.

Prominente Fälle der Keuschheitskommission

  • Santina Aubry, genannt Santina Zanuzzi, Tänzerin, 1756
  • Giacomo Casanova, 1766
  • Jean Georges Noverre, 1767
  • Der Donnerbrunnen, 1773
  • Jean (Johann Karl) Tilly, Ballettmeister, 1774–75
  • Ferdinand Ludwig Graf Schulenburg-Oeynhausen, 1775
  • Charles Hyam, englischer Kunstreiter, Schausteller 1784

Präsidenten der Keuschheitskommission

Eigenständige K.u.K. Keuschheits-Commission

  • 1752–1753 Ignaz Parhamer

Präsidenten des Erzherzogtums Österreich unter der Enns:

  • 1753–1758 Heinrich Wilhelm Freiherr von Haugwitz

Statthalter des Erzherzogtums Österreich unter der Enns:

  • 1759–1770 Franz Ferdinand Graf von Schrattenbach
  • 1770–1779 Christian August Graf von Seilern-Aspang
  • 1779–1782 Joseph Johann Nepomuk Graf von Herberstein

Präsidenten des Erzherzogtums Österreich unter der Enns:

  • 1782–1790 Johann Anton Graf von Pergen
  • 1791–1795 Wenzel Graf Sauer von und zu Ankenstein
  • 1795–1797 Franz Joseph Graf von Saurau
  • 1797–1802 Jakob Reichsfreiherr von Wöber zu Hagenberg

Literatur

  • Franz S. Hügel: Zur Geschichte, Statistik und Regelung der Prostitution. Social-medicinische Studien in ihrer praktischen Behandlung und Anwendung auf Wien und andere Grossstädte. Zamarski, Wien 1865 (Das Kapitel Die Keuschheits-Commission. S. 61–72, hält sich an die Reiseberichte von Friedrich Nicolai)
  • Benjamin Tarnowsky: Prostitution und Abolitionismus. Verlag von Leopold Voss, 1890
  • Andreas Trupp, Die Wiener Keuschheitskommission. Welche Auswirkungen hatte die Politik des konfessionellen Katholizismus unter Maria Theresia (1740 bis 1780) auf Personen, die nicht katholisch glaubten und nicht katholisch handelten?, Wien 2017. Dissertation.

Zeitgenössische Berichte

Literarisches

  • Friedrich Adolph Meyer: Die Keuschheitskommission in Wien 1758, Histor. Lustspiel frei nach einer Wiener Hofnovelle von Sacher Masoch f. d. Bühne bearb. von F.A. Meyer. [Selbstverlag F. A. Meyer], Goslar, 1872 Worldcat und bei ÖNB
  • Leopold Ritter von Sacher-Masoch Die Keuschheits-Kommission. Novelle

Einzelnachweise

  1. Anita Winkler: Maria Theresia und das Sechste Gebot. In: „Die Welt der Habsburger.“ Abgerufen am 30. Mai 2013.
  2. Christian Brandstätter: StadtChronik Wien: 2000 Jahre in Daten, Dokumenten und Bildern, Brandstätter, Christian, 1986, S. 163.
  3. Archiv für österreichische Geschichte, Band 122, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1959, S. 159.
  4. Egon Caesar Conte Corti: Die Kaiserin: Anekdoten um Maria Theresia. Styria, 1953, S. 121, Fußnote 21.
  5. Helmut Graupner: Das späte Menschenrecht. Sexualität im europäischen und Österreichischen Recht. In: Sexuologie. 2004, Heft 22, S. 122.
  6. Olivier Marmin: Diagonales de la danse. Editions L’Harmattan, 1997, S. 302.
  7. Some account of the famous chastity commission, instituted at Vienne by the late empress. In: The Edinburgh magazine, or Literary miscellany. 1785, S. 275.
  8. Moritz Bermann: Oesterreich-Ungarn im neunzehnten Jahrhundert. H. Engel, 1884, S. 211.
  9. Johann Kaspar Riesbeck: Briefe eines reisenden Franzosen. 1783, Band 1, 22. Brief (online)
  10. Alfred Ritter von Arneth: Geschichte Maria Theresias, Band 9, Wien 1879, S. 399 ff.
  11. Giacomo Casanova:; Geschichte meines Lebens, Propyläen, Berlin, Band 3, S. 260.
  12. Giacomo Casanova:; Geschichte meines Lebens, Propyläen, Berlin, Band 8, S. 250f.
  13. Johann Werfring: Die Keuschheitskommission der Kaiserin. In: Wiener Zeitung. 3. September 2001, S. 7.
  14. Gustav Brabée, Criminal-Process Zalheimb (Franz de Paula von Zahlheimb). Josephinische cause célèbre, 1786. Mittheilung sämmtlicher hierauf bezüglichen Original-Acten des Wiener Stadt- und des k. k. nieder-österreich. Appellations-Gerichtes, zum ersten Male veröffentlicht. Als Beitrag zur Charakteristik Joseph II. und zur Rechts-, Sitten- und Culturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Wien, W. Braumüller, 1870, S. 125. (Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3Dhttp%3A%2F%2Fbabel.hathitrust.org%2Fcgi%2Fpt%3Fid%3Dumn.31951p00109524t%3Bview%3D1up%3Bseq%3D143~GB%3D~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D)
  15. Eduard Nusser: Die Prostitution und deren Regulirung in Wien. Von einem praktischen Arzte. Förster und Bartelmus, Wien 1863, S. 13 (online)
  16. Alfred Ritter von Arneth: Geschichte Maria Theresias, Band 9, Wien 1879, S. 399 ff.
  17. Horst Albert Glaser (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820, Band 1, John Benjamins Publishing, Amsterdam 2001, ISBN 90-272-3447-7, S. 165.
  18. Sibylle Dahms: Der konservative Revolutionär: Jean Georges Noverre und die Ballettreform, München, epodium 2010, S. 42.
  19. Rudolf Lehr: LandesChronik Oberösterreich: 3000 Jahre in Daten, Dokumenten und Bildern, Brandstätter, 2004, S. 179.