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Solidarität?#

Archiv externer Beiträge, Blatt #35: Die Übüs#

von Martin Krusche

Ich komme in der Debatte nicht vom Fleck, während mein Verstand galoppiert. Mit der Solidarität ist es ein wenig wie mit der Zeit; gemäß Augustinus und seinen Bekenntnissen („Quid est ergo tempus?“): Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.

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Ich kenne den steirischen Kulturbetrieb seit dem Jahr 1975, also schon ein Weilchen. Solidarität kommt da eigentlich nur als Slogan vor, als ideologisches Konstrukt. Was immer in diesem Sinn gedeutet werden könnte, war räumlich und vor allem zeitlich stark begrenzt. Größere Dimensionen sind mir nie untergekommen.

Vielleicht habe wir uns ein Repertoire an Posen angewöhnt, zu dem das Ausstreuen solcher Schlüsselwörter gehört: Solidarität!

In meinem Logbuch hab ich eben notiert: „An vielen Dingen, die ich derzeit kritisiere, wäre gar nichts auszusetzen, wenn es ohne Etikettenschwindel herginge, wenn die Dinge das sein dürften, was sie sind. Klarheit in den Begriffen. Verzicht auf verdeckte Intentionen. Dann wissen wir, worüber wir reden.“

Als wir heuer begannen, die Origami Ninjas auf Facebook zu installieren, empfahl mir eine Landebedienstete für kurze Zeit, mich dem Thema Solidarität anzuvertrauen, Solidarität zu üben, auf Solidarität zu bauen. Aber was heißt denn sowas in der Praxis?

Ein Beispiel#

Daß wir unser beider Jahreseinkommen zusammenlegen, durch zwei dividieren und neu aufteilen, damit ich als freischaffender Künstler meinen Kompetenzen gemäß bezahlt werde? Damit ich, wenn nötig, gesicherten Krankenstand und taugliche Erholungsphasen hab? Daß ich bezahlen Urlaub genießen darf, um erschöpfte Kräfte besser erholen kann? Damit genug Kohle da ist, um verschlissene Kleidungsstücke endlich zu ersetzen?

Naja, so wird sie es nicht gemeint haben. Aber wie dann? Was ist der konkrete Ansatzpunkt, an dem ich mit einer sozial wesentlich besser gestellten Verwaltungskraft Solidarität üben kann? (Frauensolidarität ginge vermutlich nur unter Frauen.) Und worin zeigt sie Solidarität mit mir? Wie manifestiert sich das? Wie wirkt sich das aus?

Ich weiß es nicht. Nach allem Nachdenken beschleicht mich das Gefühl, Solidarität ist eine Zuschreibung für Wir-Konstruktionen, die ähnlich funktioniert wie Nationalismus. Ein Phantasma als Echo eines Konzeptes aus vergangenen Zeiten. Eine Duftmarke um Zugehörigkeit auszudrücken und einzufordern. Code. Aber ich komm noch drauf, was genau… Na, ich hab derzeit eine Ahnung…

Solidarität II#

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Es dürfte schon deutlich geworden sein, daß ich ansatzlos skeptisch werde, wenn jemand das Wort Solidarität wie eine Flagge vor sich herträgt. Aber was dann, wenn man diese Kategorie als Relikt betrachten müßte? Natürlich gibt es nächste Klarheiten.

Ich stoße mich nicht daran, daß es jemand das Wort Solidarität im Alltagsdiskurs als Terminus verwendet, wie man auch Bekanntschaft oder Freundschaft sagt. Soll sein. Aber als kulturpolitischer Kampfbegriff ist das ein Witz. Und als Unique Selling Proposition einer Kulturinitiative kaufe ich es niemandem ab.

Es liegt nur einer der Gründe in den mehr als vierzig Jahren Praxis, die ich bisher als Teil des Kulturvölkchens absolviert habe. Wie schon erwähnt, daher kenne ich Solidarität bloß als zeitlich und räumlich begrenztes Phänomen, aber nicht als etwas, das eine ganze Community kennzeichnen würde.

Ich hab auch noch andere Gründe, die mir recht interessant erscheinen. Durch zwei laufende Projekte bin ich wieder regelmäßig auf dem Weg über die Dörfer, hab mit Provinzbürgermeistern und mit exponierten Personen zu tun. Da frage ich nach solchen Aspekten. Der Gemeinsinn im Gemeinwesen, wie er als ein Phänomen im Kontrast zum Eigennutz steht.

Das spielt bei den „Wegmarken“ eine Rolle, wo es um Klein- und Flurdenkmäler geht, die fast ausschließlich auf privater Initiative beruhen und vielfach aus alten Dorfgemeinschaften hervorgingen.

Das spielt auch bei meiner Themenleiste “Die Ehre des Handwerks“ eine Rolle, wobei ich da wie dort jene Momente meide, wo eine verpeilte Auffassung von Volkskultur die Themen anderen Zwecken unterordnet.

Ich mache es kurz. Gemeinsinn ist rasant geschwunden, der Eigennutz gewinnt sprunghaft Terrain. Selbst Traditionsformationen wie die Freiwillige Feuerwehr leiden darunter. Einer der auffindbaren Hauptgründe ist das Vermeiden von Verantwortung. Entscheidungen treffen und für deren Konsequenzen einstehen. Da mangelt es in vielen Bereichen. (Flüstert grade jemand: Auch in Politik und Verwaltung?)

Würde ich mich in einem soziokulturellen Kameradschaftsbund wohlfühlen, könnte ich am Begriff Solidarität festhalten. Fahnen schwenken, mit Orden klimpern, Pfefferminztee trinken und zwischendurch ein Gläschen Sherry… Kann man machen.

Ich ziehe es aber vor, die Höhe der Zeit zu erkunden. Da finde ich gute Gründe für eine kollektive Wissens- und Kulturarbeit, die in wechselhaften Allianzen geschieht. Sie wird dort gedeihen, wo der Leistungsaustausch zwischen Beteiligten ein Fließgleichgewicht hat. Das muß man nicht mit der Goldwaage regeln. Über den Daumen peilen reicht völlig.

Aktive Anwesenheit und adäquates Kommunikationsverhalten, wo sie sich mit Paktfähigkeit treffen, dürften das ermöglichen, was wir früher für Solidarität hielten. Aber wir befinden uns nimmer im 19. Jahrhundert. Arbeiterbewegung, Frauenbewegungen, das hat alles neue Formen in neuen Situationen gefunden. Ob es in LGBT-Communities noch klassische Solidaritätsvarianten gibt, kann ich mangels Sachkenntnis nicht beurteilen. Aber beim steirischen Kulturvölkchen gibt es sie garantiert nicht.

Solidarität III#

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Nun möchte ich geklärt sehen: Solidarität ist bei uns vor allem ein Wort. Eine Duftmarke. Ein Element von PR-Maßnahmen. Wie immer das in anderen Bereichen gelagert sein mag, im steirischen Kulturbetrieb hab ich in nun bald 50 Jahren Praxis nichts erlebt oder gesehen, das sich mit den überlieferten historischen Beispielen vergleichen ließe.

Ich nehme zur Kenntnis, daß dieses Wort im Corona-Jahr 2020 ein enormes Revival erfahren hat; als Element von PR-Maßnahmen, vielleicht auch als Stoßgebet. Einschlägige Praxis kann ich nach wie vor nicht entdecken und ich hab nun über Monate niemanden gefunden, der oder die mir ein konkretes steirisches Beispiel erzählt hätte.

Freilich konnte ich gelegentlich sehn, daß jemand die Faust hob, diese überlieferte Grußform zitierte, sich mit jenen früheren Gesten assoziiert. Das kommt mir vor, als würde der jodelnde Japaner Takeo Ischi in die Lederhose steigen.

Und was jetzt? Trübsal blasen? Als aktiver Kulturpessimist den Untergang des privaten Stückchens Abendland verkünden? Quatsch! Aber weshalb sollte ich mich mit einer antiquierten Pose einrichten? (Warum jemand sowas tut, wird mich hier nicht weiter beschäftigen, denn das ist banal und langweilig.)

Was geht?#

Ich denke, auch hier gilt das Prinzip Antwortvielfalt. Ich erzähle von meinen Schlußfolgerungen und möchte davon ausgehen, daß es auch andere Varianten gibt, die etwas taugen. Meine Option kommt nicht mit einem Wort aus, wie das mit „Solidarität!“ zu machen ist. Ich bevorzuge kollektive Wissens- und Kulturarbeit. Das Kollektive ergibt sich durch Kommunikation und Kooperation.

Also geht es dabei auch um Paktfähigkeit und Leistungsaustausch, also um Verteilungsgerechtigkeit. Dazu käme im Idealfall, was ich von jeder Freundschaft, von jeder Art einer Beziehung erwarte: daß ich darin mit Menschen verbunden bin, vor denen ich nicht auf der Hut sein muß. Das schließt also verdeckte Intentionen aus.

Ich kenne dazu eine fundamentale Frage: „Haben Sie gute Absichten?“ Wer das nicht verstünde, sollte als Gegenüber auf etwas Abstand achten. Wer das zum eigenen Vorteil korrumpieren wollte, soll sich zum Teufel scheren.

Ich bevorzuge kollektive Wissens- und Kulturarbeit als etwas Prozeßhaftes. Einzelne Events und spezielle Wow-Effekte interessieren mich relativ wenig. Damit wir uns recht verstehen, ich finde in mir genug Eitelkeit, um eine gute erkennbare Position in solchen Prozessen zu schätzen. Ich mag so Redensarten wie „Was es wiegt, das hat’s“.

Dazu schätze ich ein Momentchen aus dem, was ich als Handwerks-Ethos kenne. Das hat zwei Aspekte, die mir sehr gefallen. Erstens: Eine Sache um ihrer selbst willen gut machen wollen. Zweitens: Man sagt nur, was man kann und man kann das, was man sagt. (Wo man etwas nicht weiß, hat sich das Fragen sehr bewährt.)

Ich kann mir nicht vorstellen, was „solidarisches Handeln“ sein mag, wenn es ohne solche Qualitäten auskäme…

Solidarität IV#

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Aus der Geschichte kennen wir wenigstens vom Hörensagen, daß es Konzepte der Gastfreundschaft gab, die von wechselseitigen Verpflichtungen handelten. Das hieß: für jemanden Verantwortung übernehmen. In einigen Konventionen, wie zum Beispiel im albanischen „Kanun“, schloß das auch den erklärten Feind ein. War er Gast, mußte man bis zur Dorfgrenze für seine Sicherheit garantieren.

Wir haben vielfältige Traditionen, vom Familien- oder Stammesmitglied zu abstrahieren, um Wir-Momente zu schaffen, die über Clandenken hinausgehen. Im Überwinden von Nationalismen und in einem Ankommen Europas auf der Höhe der Zeit ringen wir nach wie vor mit der Neigung zum Eigennutz.

Ich vermute, die Idee von Solidarität ist eines solcher Konzepte. Nehmen wir für einen Augenblick an, ich wollte mich als Künstler solidarisieren. Mit wem? In welchem Modus? Was wären denn konkrete Kriterien? Sollte ich mich mit Glaubenssätzen vertraut machen und Esoterik bevorzugen? Wäre es besser, ich würde konkrete soziokulturelle Kriterien finden?

Ich vertrete ich nun seit so vielen Jahren, nein, seit Jahrzehnten, die Vorteile einer kollektiven Wissens- und Kulturarbeit. Blöd, daß dabei „Solidarität“ nie so richtig greifbar wurde. Ich probiere jetzt was:

  • Wir Künstlerinnen und Künstler müssen zusammenhalten. (So viel Gelächter hält mein Körper nimmer aus.)
  • Wir Freelancers im Kunstbereich müssen zusammenhalten. (Dafür sind wir zu wenige.)
  • Wir Männer müssen zusammenhalten. (Geht gar nicht!)
  • Wir Männer müssen mit den Frauen halten. (Geht auch nicht.)
  • Wir gegen rechts. Zusammenhalten! (Naja, links von Dschingis Khan ist immer noch sehr weit rechts. An wen soll ich mich nun halten?)
  • Wir Solidarischen müssen mit den Solidarischen halten! (Ja, das könnte gehen.)

Ist es denn tatsächlich so, daß ich beim Thema Solidarität bloß Glaubensgegenstände aus dem Regal ziehen kann? Nein, so komme ich in dieser Sache nicht weiter. Was also könnte ich nutzen, wo ich in mittel- und längerfristigen die Kooperation mit anderen Leuten über den Rang privater Sympathie erheben will? Wie und woraus mag ein berufsbezogener Zusammenhalt entstehen? Das Thema liegt mir eher.

Der Ausgangspunkt ist für mich stets die Frage, mit welchen Themen Leute gerade vorzugsweise befaßt sind. „Worin bist Du gut, weil es Dir als Thema zusagt und Freude macht?“ (Glauben Sie mir, es braucht auch einige Arbeit, um eine gute Frage zu stellen!)

Dann frage ich: „Haben wir bei diesen Themen Schnittstellen, Überschneidungen, Berührungspunkte?“ Irgendwas findet sich da immer. Das führt zur Frage: „Welche interessanten Arbeitsvorhaben ließen sich aus diesen Berührungspunkten ableiten?“ Haben wir darüber Klarheit, bleibt zu fragen: „Machen wir das? Falls ja, wer übernimmt dabei was? Wann legen wir los?“

Aus solcher Praxis kann dann sehr gut ein Zusammenhalt entstehen, dessen Tragfähigkeit über einzelne Arbeitsvorhaben hinausreicht. Es kommt nach meiner Erfahrung nicht durch das Predigen und Verlautbaren, es kommt durch gemeinsames Tun.

Solidarität V: Macht#

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Ich denke, diese zwei Kategorien bedingen einander: Solidarität und Macht. Für mich liegt Macht darin, andere Menschen ohne rohe Gewalt zu Verhaltensänderungen zu bewegen; und daß ich besseren Zugriff auf Ressourcen habe, als andere Leute. Ab hier greift dann das jeweilige Konzept.

Solidarische Haltung und solidarisches Handeln erscheinen mir untrennbar. Worte sind kein Beleg für Solidarität. Im solidarischen Handeln kann ich auf Machtmißbrauch antworten. Was heißt das positiv formuliert?

Eine wichtige Grundlage jeglicher Gemeinschaft: Die Regeln müssen bekannt und transparent sein, um „Gnadenstand“ auszuschalten. Rechtssicherheit heißt, wir wissen alle, worauf wir uns mit Recht berufen können, wenn es darauf ankommt. Pflichten sollten dazu auch geklärt sein. Wir werden im Kulturbetrieb freilich kaum Entsprechungen zu alten Handwerksordnungen verfassen. Manchmal erscheint allerdings eine Charta nützlich.

Solidarität hieße dann auch: wenn einzelne Personen von Gewaltwillkür betroffen sind, sollte die Gemeinschaft einschreiten. Solidarität hieße ferner, sich aktiv für Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit einzusetzen.

Solidarität hieße wohl auch, Mindeststandards an intellektueller Selbstachtung zu markieren und dann einzugreifen, wenn jemand die Begriffe einer Solidargemeinschaft kapert, um damit andere, eigennützige Zwecke zu verfolgen.

Wer Guerilla Marketing bevorzugt, wer die Bilder und Begriffe einer Solidargemeinschaft klaut, um sich selbst besser zu vermarkten, um an einschlägige Budgets zu kommen, um das Segment zu plündern, muß zur Rede gestellt werden.

Solidarität ohne wechselseitige Verpflichtungen und konkretes kollektives Handeln kann ich mir nicht vorstellen. Das hielte ich dann für einen beliebig befüllbaren Containerbegriff, wahlweise einen Brocken aus der Phrasendreschmaschine.

Ich bekomme nun seit Monaten keine stichhaltigen Hinweise auf belegbare steirische Beispiele. Ich kenne selber aus bald 50 Jahren Berufspraxis kein einziges Beispiel, wo Solidarität in unserem Metier zeitliche und örtliche Grenzen nennenswert überschritten hätte.

Wer demnach das Wort Solidarität wie eine Fahne vor sich herträgt, sollte erklären, was genau damit gemeint ist. Sie ahnen vermutlich, daß ich selbst dazu neige, den Begriff mit einer historischen Kategorie verbunden zu sehen.

Wir befinden uns in einem fundamentalen Umbruch. Ich würde gerne neu klären, um welche Qualitäten und Konventionen es diesbezüglich geht und welche Sprachregelung dafür ausreichend genau sowie aufschlußreich wäre.

Erstmals 2021 publiziert in der Reihe „Hart am Wind“ bei „Die Übüs“