Der heilige Alfred, der Große#
Alfred Kolleritsch prägt die heimische Gegenwartsliteratur als engagierter Lyriker und Prosaist - und als Instanz des Literaturbetriebs. Am 16. Februar wird er 85.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 13./14. Februar 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Jochen Jung
Sie werden schon sehen: Beides ist nicht übertrieben. Ich bin Protestant und Demokrat und weiß, was ich sage, wenn ich einen heiligen König ins Spiel bringe: Alfred Kolleritsch ist eine der wenigen wirklich großen Gestalten der österreichischen Nachkriegsliteratur, die ja inzwischen nicht nur historische Dimensionen hat, sondern auch im Verhältnis zu früherem unkontrolliertem Lobgesang auf alles, was aus Graz kam oder im Residenz Verlag erschienen war, einigen der Autoren, die damals in aller Munde waren, Bestand zugesichert hat und andere nicht einmal mehr vermisst. Und einige wenige haben immer noch nicht den Ruf, den sie haben sollten.
Fredy war immer schon zehn Jahre älter als ich (und sobald er Geburtstag hat, sind es elf). Als ich ihn zum ersten Mal traf, war das anlässlich eines Autorentreffens in Graz, da war Angelika Reitzer noch im Kindergarten und Thomas Stangl Volksschüler, von Clemens Setz ganz zu schweigen. Das Treffen galt der Feier der 50. Nummer der "manuskripte", jener damals schon sagenumwobenen Literaturzeitschrift, die Kolleritsch redigierte und leitete, und ich war seit ein paar Monaten Lektor des jedenfalls in Deutschland jedenfalls bei Literaturfreunden jedenfalls den Jüngeren neugierig beobachteten Residenz Verlags, mit dessen Hilfe damals das ganze Österreich einen endlich zeitgenössischen Auftritt zu haben schien.
Dabei gab es schon damals neben Bernhard und Handke, Artmann und Achleitner, Frischmuth, Rosei, Okopenko und Amanshauser auch andere, ich nenne nur Wolfgang Bauer, Gunter Falk, Alois Hergouth und Gerhard Roth.
Man feierte also die gerühmte Zeitschrift, und mir, dem damals erst vor wenigen Monaten in den Residenz Verlag geratenen Lektor aus Deutschland, fiel zur Feier des Tages nichts Besseres ein, als dem Herausgeber zu empfehlen, die "manuskripte" sofort zu schließen: Besser könnten sie nicht mehr werden, schlechter allerdings wie alles richtig Gute ziemlich gewiss.
Man fuhr mit einem Bus zum Weingut Kolleritsch, ich saß still für mich auf einer Bank und schielte nach den Autoren in der Hoffnung, den einen oder anderen zu erkennen. Da setzte Fredy sich zu mir, "ich bin der Alfred Kolleritsch, wir können Du sagen", redete heiter über meinen nicht erfüllbaren Vorschlag und machte mich in Kürze mit etlichen auch von mir still Verehrten bekannt: Es wurde eine lustige und, wie damals noch üblich, auch durch ordentliche Schnäpse befeuerte Weinseligkeit. Von da an wurde mindestens zwanzig Jahre lang im Residenz Verlag Kolleritschwein getrunken (pardon, dass sich das Wort so seltsam liest!).
Talenteförderer#
Er machte mich gleich auf ein paar seiner Schützlinge aufmerksam, die noch keinen Verlag hatten, während ich auf weitere Empfehlungen verzichtete. Die hatte Kolleritsch auch wirklich nicht nötig: Schließlich hatte er schon jahrelang gezeigt, dass er sehr wohl wusste, welche Texte eine aufgeschlossene Leserschaft verdient hatten und welche nicht. Und dafür hatte er - und das ist es, was ihn in meinen Augen zum Heiligen macht - sein eigenes Schreiben lange Zeit im Hintergrund gehalten und einen Großteil seiner Energie dem literarischen Vorankommen anderer gewidmet. Natürlich war das auch eine gar nicht so kleine Machtposition im Literaturbetrieb, die dem eigenen Ego aufhalf, aber auf einen, den man kurzfristig glücklich macht, kommen hundert Abgelehnte, die einem das ein Leben lang nachtragen. Dieses Dilemma hält man nur aus, wenn man einen klaren und entschiedenen Begriff hat von der Literatur und der eigenen Aufgabe. Und da die Literatur nie am Ende ist - so wie nie am Anfang -, braucht sie richtungweisende Unterstützung, um nicht zu sagen: Rat und Tat.
Wie man sich dieser selbstlosen Aufgabe unterziehen konnte, wo es einen doch eigentlich immer zum eigenen Schreibtisch zog, ist mir ein ebensolches Rätsel wie der Großmut, den es braucht, um die Reaktionen der Möchtegerns und Esauchverdienthabenden zu verkraften. Denn es geht bei der Redaktionsarbeit ja nicht nur um Texte und Karrieren, es geht um unser Selbstverständnis als auf Kunst Angewiesene, es geht, wenn man schon die Literatur ernst nimmt, um den Begriff vom Menschsein und nicht weniger. Dazu hat Alfred Kolleritsch nicht nur das Seine, sondern das Unseraller beigetragen.
Kunst & Pflicht#
Ich sehe da einen Menschen vor mir, der ins Büro wandert und noch im Gehen die auf ihn zukommenden Pflichten zu sortieren versucht, der dann im Büro die Post durchsieht, in der ja nicht immer ein paar Seiten von Peter Handke liegen, und der sich zwischendurch überlegt, wie sich ein weiterer Bogen im nächsten Heft finanzieren ließe, wie man überhaupt der Politik etwas von den durch die Beschäftigung mit Kunst gewonnenen Erkenntnissen beibringen könnte. Und dazwischen melden sich die unfertigen Zeilen des Gedichts, an dem es gerade in ihm arbeitet - und auf einmal hat er die Formulierung gefunden, die gut klingt und es sich trotzdem nicht zu einfach macht, und er sitzt da so glücklich, als hätte er einen guten neuen Autor entdeckt, und sei es, dass er der selber ist.
Ja, Alfred Kolleritsch muss sehr viele glückliche Momente in seinem Leben gehabt haben, denn er liebt die Literatur auf eine selbstlosselbstverliebte Weise, und sie liebt ihn und dankt es ihm. Gewiss, Peter Handke wäre auch ohne ihn Peter Handke geworden, aber vielen hat er so manchen Umweg erspart.
Alfred hat in einem bewegenden Gespräch mit Riki Winter im Droschl-Dossier einmal erzählt, wie mühsam für ihn der Weg zu einer Literatur, mit der er sich identifizieren mochte, gewesen ist. Erst spät, aber nicht zu spät, hat er im Rufen der Dichtung seinen Namen herausgehört. Er hat intensiv Philosophie studiert und lange versucht, über Denken und Grübeln die Rätsel der Welt und die Hässlichkeit der menschlichen Gesellschaft zu entschlüsseln, bis er sich traute, die erlösenden Umarmungen der Sprache anzunehmen.
Skepsis gegenüber dem sogenannten Einfall hat ihn, der das Leben immer so ernst genommen hat, wie es nun einmal ist, erst relativ spät die kleinen und großen Überwältigungen der Sprache auch in seinen eigenen Texten gelten lassen. Das Nachdenkliche seiner Gedichte ist auch ein Zeichen dieser Skepsis, die Verstörungen des Nationalsozialismus waren so leicht nicht durch Schönheit auszugleichen, sei es die der Natur, der Liebe oder der Sprache - auf allen Gebieten mussten die Gesten der Zugänglichkeit und der Freiheit erst gelernt werden.
Ein Bruder oder Vetter Leichtfuß war er nie, so wenig wie er einer war, dem alles in den Schoß fällt, nicht die Gedichte, nicht die Erfolge, er musste lernen, Dinge zuzulassen. "Meinen Einfällen vertraue ich nicht", so beginnt das erste Gedicht seines ersten Gedichtbuches, dann aber, durch alle Nachdenklichkeit hindurch, schaut er die Welt an, und siehe, sie blickt zurück: "Wie die geschälte Zwiebel glänzt", so einfach kann Beglückung leuchten. Die sinnliche Welt öffnet sich, sie glänzt unvergessbar, er lacht, und eine Begegnung kann gefeiert werden.
Niemand von den österreichischen Autoren ist ferner von der sogenannten Unterhaltungsliteratur als Kolleritsch. Seine Gedichte wollen ergründet sein, wollen, dass der Leser, die Leserin der Spur des Wahrnehmens und des Nachdenkens, die sie sind, nachgeht. Da kann manches fremd bleiben, gelegentlich sogar dem Autor selbst, aber es öffnen sich auch glückliche Pfade zu einer Erkenntnis:
"Glühend, vom Bergkamm
getrennt, ist die Sonne,
tief wie ihr Bild. Es ist Abend,
Schatten:
die Hoffnung, dass sich die
Dinge erholen,
ihr Gedächtnis unter dem
Schneeglanz findet den Weg,
vertraut, der die Spuren der
Heimkehr annimmt,
Wiederkunft des Geschehens,
Schönes und Hässliches,
Namen der Zeit."
(A. Kolleritsch: Parmenides im Winter. Aus: "Absturz ins Glück", Residenz, 1983)
Selbstprüfung#
Diese Gedichte haben viel Sinn für das unter der Schwelle liegende Pathos, man hört mehr Bruckner als Mozart. Das Schicksal ist vor dem Glück Leid, und das verlangt die entsprechenden Töne. Kolleritsch kennt sie und findet sie bildlich in der Natur und dem Alltag, menschenbezogen in sich selbst, gesellschaftlich in unserer jüngeren Geschichte, und seine vor oder parallel zu der Lyrik entstandene Prosa - "Die Pfirsichtöter", "Die grüne Seite", "Von der schwarzen Kappe", "Allemann" (siehe Literaturhinweis), "Die Gespräche im Heilbad" und "Der letzte Österreicher" - , sie legt davon ein ausdrückliches Zeugnis ab.
Erstaunlich genug, aber die Autoren nach Doderer, Saiko, Okopenko und Lebert, sie, die gleichsam den historischen Auftrag hatten, die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus literarisch zu Wort kommen zu lassen, haben sich oft über ihre nächste Umgebung nicht hinaus getraut und anderen, scheinbar gegenwärtigeren Themen zugewandt, und niemand hat wie Kolleritsch versucht, im offenen Umgang mit sich selbst Breschen zu schlagen durch das fatale Dickicht der sich durch alle Ritzen in jeden hineindrängenden Verführungen und Verderbnisse der tödlichen Lebensvorstellungen der Nazis. Kolleritsch hat es auf dem einzig möglichen Weg der Selbstprüfung gemacht. Das hat eine Gewalt der anderen Art, die nur mit der Arbeit an sich selbst zu gewinnen ist.
Der heilige Alfred der Große war ein englischer König, der sein Land gegen die andrängenden dänischen Wikinger verteidigt hat. Sein Name bedeutet: der, der durch die Elfen Rat gibt. Darauf verlassen wir uns.
Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt a. M., ist österreichischer Verleger (Verlag Jung und Jung, Salzburg) und Schriftsteller (zuletzt "Zwischen Ohlsdorf und Chaville", Haymon 2015).