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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung
aus österreichischer Sicht
Genau unter diesen Vorzeichen entwickelte sich im Frühjahr der innere und der
äußere Einigungsprozess. So klar war dies zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht.
„Nachdem in den ersten Monaten nach der Wende eine richtige Euphorie bezüg-
lich der Vereinigung mit der BRD geherrscht“ hatte, war laut einem Bericht der
österreichischen Botschaft in Ost-Berlin von Mitte März, „seit etwa einem Monat
in weiten Kreisen“ der DDR-Bevölkerung „eine gewisse Ernüchterung eingetre-
ten. Hatte man bis dahin in einer Vereinigung mit der BRD nur positive Seiten
gesehen, so kommt man nun darauf, dass die Vereinigung auf gewissen Gebieten,
insbesondere dem sozialen, auch Nachteile mit sich bringen dürfte.“357
Die ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 endeten nach einem
von den bundesdeutschen Parteien massiv mitgeprägten Wahlkampf dennoch
mit einem auch für Österreich überraschenden und überlegenen Sieg der von
der Christlich-Demokratischen Union (CDU) geführten „Allianz für Deutsch-
land“.358 Mock stattete Bonn wenig später einen Besuch ab, im Rahmen dessen
er Kohl das „Große Goldene Ehrenzeichen am Bande“ überreichte, für den öster-
reichischen EG-Beitritt warb und sich mit ihm über die jüngsten Entwicklungen
in der DDR austauschte. Vor der Presse dankte der österreichische Außenminister
Kohl für sein Verständnis für den Beitrittswunsch Österreichs und gratulierte
„zum großartigen Wahlerfolg in der DDR“. Eine austrospezifische mediale Pole-
mik, wonach Mock die „Wiedervereinigung“ vorweggenommen hätte, folgte auf
den Fuß.359
Nach der Bildung einer breiten Koalition, die neben den Parteien der „Allianz“
auch den Bund der Freien Demokraten und die SPD umfasste, wurde Lothar de
Maizière (CDU) am 12. April zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Auch
wenn nun selbst de Maizière „vor einer Überstürzung des Prozesses der Einigung“
warnte und damit laut der österreichischen Botschaft in der DDR „ohne Zweifel
den heutigen Vorstellungen des größeren Teils der hiesigen Bevölkerung“ aus
der Seele sprach, bestanden weder in Ost-Berlin noch Bonn „Zweifel, dass dieser
Prozess positiv abgeschlossen werden wird“. Lediglich die Haltung der UdSSR
in diesem galt noch als unbestimmt.360 Trotz dieser und anderer Unbekannten
waren nun auch in der DDR in politischer Hinsicht die Weichen ganz klar auf
Einheit gestellt. Dies und der bevorstehende Fahrplan waren für den Ballhaus-
platz offenkundig.361
357 Siehe Dok. 136.
358 Siehe Dok. 137
359 Siehe dazu ausführlicher: Gehler, Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinde-
rung, S. 330.
360 Siehe Dok. 144.
361 Siehe Dok. 141.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99