Seite - 95 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
sönlichen Wahrnehmungen des Generalkonsulats beruhende Stimmungsbild
eine Woche nach der deutschen Einheit“ an. Sie sah „potentielle Störfaktoren“
fortbestehen und meinte: „Viel Fingerspitzengefühl, gewaltige Anstrengungen
und Solidarität werden in den nächsten Monaten erforderlich sein, um diese
abzubauen.“407
Anders als einige mit Skepsis behaftete diplomatische Stimmen, gab sich die
österreichische Politik von der künftigen Rolle Deutschlands in Europa positiv
überzeugt. Mock richtete ein Gratulationsschreiben an seinen Amtskollegen Gen-
scher, Bundeskanzler Vranitzky gab am 3. Oktober 1990 anlässlich des Vollzugs
der deutschen Einheit eine Erklärung ab und brachte diese Einschätzung auch in
einem Brief an Kohl zum Ausdruck: „Wir sind davon überzeugt, dass Deutsch-
land auch in seiner neuen Form und unbeschadet der großen innen- und wirt-
schaftspolitischen Aufgaben, die nun vor Ihnen liegen, immer seinen Beitrag zu
der neuen Architektur Europas, zu einem Europa der immer stärkeren Gemein-
samkeit in Freiheit, Frieden und Sicherheit, leisten wird.“408
8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa
– Bilanz und Ausblick
Schlussendlich stand Österreich einhellig positiv zu deutschen Einheit. Dies war
im Herbst 1989 noch weniger klar und kann durch eine Langzeitperspektive, ins-
besondere vor dem Hintergrund der gut ausgebauten Beziehungen zur DDR eine
Einordnung erfahren. Während Mocks Haltung von Anfang an klar pro deutsche
Einheit war, wird Vranitzkys Positionierung in Diskussion bleiben. Inwiefern
Vranitzkys Haltung primär der unabsehbaren Entwicklung und wirtschaftlichen
Interessen geschuldet war oder doch eine andere (parteipolitische) Schlagseite
hatte, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden. Aus den nun vor-
liegenden Akten lässt sich vor allem eine gewisse Analogie zu dem bremsenden
und zurückhaltenden Mitterrand erkennen, der – nachdem ihn die rasante Ab-
folge der Ereignisse vom Herbst 1989 überrollt hatte – eine Einbettung der deut-
schen Einheit in den europäischen Einigungsprozess anstrebte.409 Dagegen war es
auch im Frühjahr 1990 noch unmöglich, die in dieser Frage zunehmend isolierte
britische Premierministerin zu einer positiven Haltung zur deutschen Einheit zu
bewegen. Als Vranitzky Anfang Mai in London mit Thatcher, die die deutsche
Einheit jedenfalls aus Überzeugung abgelehnt hatte, zusammentraf, stimmten
407 Siehe Dok. 177. Matzner-Holzner hat ihre Erinnerungen und Reflexionen zur Thematik auch
publiziert: Gabriele Matzner-Holzner, Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland.
Ein Verhältnis, Wien 2005.
408 Siehe Dok. 176, für das Zitat Anm. 1.
409 Ulrich Lappenküper, „Le plus germanophile des chefs d’Etat français“? François Mitterrand
und Deutschland 1916–1996, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 390–416; Ulrich Pfeil,
Bremser oder Wegbereiter? Frankreich und die deutsche Einheit 1989/90, in: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht 67 (2016) 1/2, S. 23–38.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99