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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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und Otto Neuraths (1882–1945) widerspiegelt.34 Josef Frank rechnete 1931 in seinem
Buch Architektur als Symbol35 mit der sich in Deutschland entwickelnden Architektur ab:
„Modern ist das Haus, das alles in unserer Zeit Lebendige aufnehmen kann und dabei
doch ein organisch gewachsenes Gebilde bleibt. Die moderne deutsche Architektur mag
sachlich sein, praktisch, prinzipiell richtig, oft sogar reizvoll, aber sie bleibt leblos.“36
1912 war das Buch Houses and Gardens des britischen Architekten und Vertreters
der Arts-and-Crafts-Bewegung Mackay Hugh Baillie Scott (1865–1945) in deutscher
Sprache erschienen, in dem als zentraler Ort des Familienlebens eine „Wohnhalle“ vor-
geschlagen und die Integration alter und neuer Formen in die Wohnwelt befürwortet
wurde. Der englische Wohnstil und das Biedermeier als Vorbilder regten die jungen Ar-
chitekten wie Josef Frank, Hugo Gorge (1883–1934), Viktor Lurje (1883–1944), Oskar
Strnad und Oskar Wlach (1881–1963), die gemeinsam bei Carl König (1841–1915) an
der Technischen Universität in Wien studiert hatten, zu neuen Wohnraumgestaltungen
an.37
1916 war vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie das Vorlagenwerk
Einfacher Hausrat herausgegeben worden, das mehr als 50 Möbelentwürfe von Oskar
Strnad (1879–1935), Karl Hagenauer (1898–1956) und Franz Schuster (1892–1972)
im bäuerlichen und englischen Stil zeigte. Das Vorlagenwerk erschien anlässlich eines
ausgeschriebenen Wettbewerbs des k. k. Ministeriums für öffentliche Arbeiten, um der
mittellosen Bevölkerung in kriegsbetroffenen Gebieten preiswerte und brauchbare Typen
für neuanzufertigende Möbel anzubieten.38
Christian Witt-Dörring ist der Ansicht, dass Oskar Strnad im Verband mit Josef Frank
„eine unverkennbare wienerische Ausdrucksform des Innenraums“39 geschaffen habe, ein
Interieur, das „mit seinen Bewohnern mitlebt, sie nicht durch einen Formenkanon oder
Zugeständnisse an ein Repräsentations-Denken einschränkt, sondern erst durch die Per-
son oder den Charakter des Bewohners seinen Stimmungsgehalt“40 erhalten habe. Os-
kar Strnad vertrat die Auffassung, dass das Möbelstück ein „selbständiges Wesen“41 sei,
das deshalb beweglich und mobil sein müsse. Josef Frank unterstützte diese Auffassung
und sprach sich für ein durch Zufälligkeiten entstandenes Ambiente aus, das „nie fertig
[ist] und [...] alles in sich aufnehmen [kann], um die wechselnden Ansprüche seines Be-
34 Nierhaus 2009, S. 245.
35 Frank 1931.
36 Frank 1931, S. 135.
37 Ottillinger 2009, S. 22.
38 Ottillinger 2009, S. 22.
39 Witt-Dörring 1980, S. 28.
40 Witt-Dörring 1980, S. 28.
41 Kat. Ausst. Österreichisches Museum für Angewandte Kunst 1980, S. 93.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482