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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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muss beweglich sein, d. h. es wird nur im Gebrauchsfalle hervorgeholt. Im Nichtge-
brauchsfalle muss es an einem für es bestimmten Platz zurückkehren, das [sic!] der Bewe-
gungsraum nicht verringert werde. Es muss variabel sein, mehreren Zwecken entsprechen
s. [sic!] Diwanbett. Bei all dem darf es weder empfindlich in der Mechanik, schwierig im
Gebrauch, noch unbequem hässlich oder teuer werden.“63 Die beschränkten räumlichen
Verhältnisse hätten dazu geführt, dass „der Mangel zum formenden Prinzip geworden“64
sei: „Das brachte einen anderen großen Vorteil mit sich, neben dem, auf das Unnötige
und Belastende verzichten zu müssen: Man hat erkannt, auf welchem kleinsten Raum
man den Bedürfnissen an nötigstem Komfort gerecht werden kann, und wäre jetzt fähig,
ein Haus von innen her angenehm, rationell in der Bewirtschaftung und daher sparsam
zu gestalten.“65 Im Text heißt es weiter, man könne nun „rationelle“ Häuser nicht nur für
den „Mittelstand“, sondern auch für die „Arbeiterschaft“ entwickeln.66 Dennoch genüge
es nicht, „ein Haus mit vielen kleinen Zellen wie für Bienen herzustellen und nun den
Bewohner seinem Schicksal zu überlassen, ihn mit seinen zu vielen altmodischen, raum-
fressenden [sic!], in jeder Richtung unrationellen Möbeln einziehen zu lassen“, sondern
eine „Wohnkultur“ zu schaffen, indem dieses Haus schon so gestaltet sei, „daß es allen
Notwendigkeiten entspricht“, und dem Bewohner „Möbel zur Verfügung zu stellen, die
dafür zweckmäßig sind, und ihn anzuweisen, wie er sich damit einzurichten hat.“67 Jene
Haltung steht in starkem Gegensatz zu Adolf Loos’, Josef Franks und Oskar Strnads Vor-
stellung eines gewachsenen Wohnambientes, das unterschiedliche Möbel aufnimmt und
stimmt viel eher mit der Ansicht Josef Hoffmanns überein, der befürwortete, dass „ein
Haus wie aus einem Guss dastehen sollte [...].“68
Mit dem idealistischen Wunsch, eine Lösung für soziale Probleme zu finden, stan-
den Dicker und Singer aber auch ganz im Geiste des bis 1928 amtierenden Bauhaus-
Direktors Walter Gropius.69 1930 formulierte dieser zur Integration der Funktionalität
im Alltag in dem Band Bauhausbauten Dessau: „Reibungsloses, sinnvolles Funktionieren
des täglichen Lebens ist kein Endziel, sondern bildet nur die Voraussetzung, um zu ei-
nem Maximum an persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit zu gelangen. Die Standar-
disierung der praktischen Lebensvorgänge bedeutet daher keine neue Versklavung und
Mechanisierung des Individuums, sondern befreit das Leben von unnötigem Ballast, um
es desto ungehemmter und reicher sich entfalten zu lassen.“70 Und in dem 1926 er-
63 AGS, Textentwurf „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“.
64 Kölner Tageblatt 1931.
65 Ebd.
66 Ebd.
67 Ebd.
68 Hoffmann 1901, S. 203.
69 Vgl. Colin 20062, S. 24
70 Gropius 1930, S. 8.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Title
- Bauhaus in Wien?
- Subtitle
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Author
- Katharina Hövelmann
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Size
- 17.4 x 25.6 cm
- Pages
- 492
Table of contents
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482