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76 Celine Wawruschka
einrichtungen dominierte53, aber auch zum Historischen Materialismus, bezeichnete er
doch die Annahme, dass der Klassenkampf die Nation überwinde oder ausschließe, als
„vulgär-sozialistisches Vorurteil“54 und hielt am Nationalstaatsgedanken fest.
Fast über drei Jahrzehnte war Hartmann an der Universität Wien auf seine Tätigkeit
als Privatdozent beschränkt. Einerseits kreidete man Hartmann an der Wiener Philo-
sophischen Fakultät unter maßgeblichem Betreiben von Alfons Dopsch seine Nähe zu
Karl Lamprecht an55, einem Außenseiter unter den deutschen Historikern, der eben-
falls die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Naturwissenschaft propagierte und
an die Lösbarkeit historischer Probleme durch empirische Forschung und Ergründung
historischer Gesetze glaubte56. Darüber hinaus warf man Hartmann Einflüsse des his-
torischen Materialismus und die Annahme generalisierender Gesetzmäßigkeiten in den
Geschichtswissenschaften vor, auch wenn man ihm keineswegs Detailkenntnisse sowie
die Qualität seiner Editionsarbeiten absprach57. Andererseits waren zu jener Zeit Sozi-
aldemokraten und Konfessionslose vom Lehramt an Hochschulen ausgeschlossen58, wie
auch der sozialdemokratische Politiker Karl Seitz im Rahmen einer Sitzung zur Verhand-
lung des Staatsvoranschlages in Anwesenheit des Ministerpräsidenten kritisierte59. Zwei-
fellos war der „konfessionslose Jude“60 und Sozialdemokrat Hartmann ein Außenseiter in
der Zunft, aber kein Abgesonderter, wie Günter Fellner meinte61. Hartmanns Schicksal
wirft kein gutes Licht auf die Wiener Philosophische Fakultät, es zeigt, wie borniert
sich führende Fachvertreter gegenüber unorthodox-innovativen Ansätzen verhielten, wie
verkrustet auch die politischen Machtstrukturen waren62. So sehr Hartmann politische
53 Fellner, Hartmann als Historiker (wie Anm. 36) 29.
54 Ludo Moritz Hartmann, Die Nation als politischer Faktor, in : Verhandlungen des 2. Deutschen Soziologen-
tages vom 20. bis 22. Oktober 1912 in Berlin : Reden und Vorträge, hg. v. Deutsche Gesellschaft für Soziolo-
gie (Frankfurt am Main 1969) 80–97, hier 91.
55 Fellner, Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2) 240 ; Schieffer, Weltgel-
tung (wie Anm. 33) 57.
56 Bernhard vom Brocke, Art. „Lamprecht, Karl“, in : NDB 13 (1982) 467–472, hier 468.
57 Fellner, Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2) ; Fuchs, Geistige Strö-
mungen in Österreich (wie Anm. 49) 108 ; Friedrich Stadler, Wissenschaft und österreichische Zeitge-
schichte. Methodologische und metatheoretische Untersuchungen zu einer historischen Wissenschaftsfor-
schung, in : ÖZG 7/1 (1996) 93–116, hier 112.
58 Otto H. Stowasser, Ludo Moritz Hartmann zum Gedächtnis, in : Frankfurter Zeitung, 12.12.1924.
59 Arbeiterzeitung, 31.01.1918, 4.
60 Hier handelt es sich um ein interessantes semantisches Oxymoron, das darauf schließen lässt, dass mit dem
Judentum weniger eine Religion als eine Ethnie gemeint ist.
61 Wolfgang Zorn, Miszelle : Der Hauptinitiator Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) und seine erste Biogra-
phie, in : VSWG 76/3 (1989) 381–383.
62 Rüdiger vom Bruch, Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradig-
matischen Konflikts by Günter Fellner, in : HZ 248/1 (1989) 121 :
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625