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Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941) 415
hier im Folgenden eigene Lehrmeinungen zu entwickeln. Auf dieser Grundlage und unter
Anwendung „subtiler Quellenkritik“57 entwickelt sie jeweils ihre Argumentation. Die von
ihr in den genannten Monographien aufgegriffenen Themen behandeln zeitgenössisch
aktuelle Forschungsthemen. In der „Karolingische[n] Renaissance“ versucht sie zunächst,
den gebräuchlichen Begriff zu relativieren, indem sie die Kontinuität von spätrömischen
hin zur merowingischen bzw. karolingischen Zeit betont und Karl den Großen weniger
als Erneuerer und Reformer, denn als Fortsetzer und Vollender altfränkischer Traditionen
sieht58 : „Aus sich allein konnte die Merowingerzeit das alles nicht hervorgebracht haben,
wenn sie vom Altertume durch eine Zäsur getrennt gewesen wäre. In der Tat war […] von
der Antike im frühen Mittelalter noch weit mehr vorhanden, als man bisher im Banne
der ‚Katastrophentheorie‘ anzunehmen geneigt war. Wo daher Karl und sein Werk sich
mit der Antike berührten […], liegt nicht eine Wiederentdeckung der Antike, sondern
die weitere Verwertung des durch die merowingischen Vorgänger der Karolingerzeit über-
mittelten Kulturgutes vor.“59 Diesen Gedankengang setzt Patzelt mit der Publikation zur
fränkischen Kultur und dem Islam fort, mit der sie auf die erstmals 1922 geäußerten The-
sen des belgischen Mediävisten Henri Pirenne60 über „die orientalische Kraft des Islams
[als] Ursache für den Zusammenbruch der antiken europäischen Ordnung und damit als
entscheidender Anstoß für den Übergang zum Mittelalter“61 reagierte und dessen ganz
konkreter Anlass die Begegnung beider auf einem Kongress in Oslo gewesen sein könnte,
auf dem Pirenne vorgetragen hatte62. Hierin betont sie nach ausführlicher Erörterung der
57 Diesen Ausdruck verwendet sie zwar in Bezug auf die Arbeitsweise ihres Lehrers (Erna Patzelt, Vorwort, in :
Alfons Dopsch, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalter. Gesammelte Aufsätze 1, redigiert v.
Erna Patzelt [Wien 1928]), doch scheint auch sie sich diesem Anspruch verpflichtet, der den Weg hin zur
(historischen) Wahrheit öffnen sollte : „In unermüdlicher, hingebungsvoller Arbeit hat er durch umfassende
Quellenforschung weitverstreute Bausteine nicht nur gesammelt, sondern auch zu einem einheitlichen, ge-
waltigen Bau zusammengefügt. Er wollte die Wahrheit und nur sie erforschen und deshalb gelang es ihm, die
großen Zusammenhänge geschichtlichen Werdens zu erkennen, aufzudecken und darzustellen.“ (ebd.).
58 PA Patzelt (wie Anm. 4) fol. 183r.
59 Patzelt, Renaissance (wie Anm. 35) 160.
60 Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne, in : Revue Belge de Philologie et d’Histoire 1 (1922) 77–86.
61 Christoph Strupp, Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte (Göttingen 2000) 165.
62 Zur Anwesenheit und zum Vortrag Pirennes in Oslo siehe ebd. – Zur Anwesenheit Patzelts siehe PA Patzelt (wie
Anm. 4) fol. 177r, obwohl sie in : Patzelt, Die fränkische Kultur und der Islam (wie Anm. 2) 1f., diesen Kon-
gress nicht erwähnt. Wohl nennt sie aber den früheren Ve Congrès International des Sciences Historiques, Bru-
xelles, vom Frühjahr 1923, auf dem weder sie noch andere deutschsprachige Historiker anwesend waren (siehe
dazu Anm. 133) : „[D]ie Hauptthesen jedoch hat der Verfasser […] an weithin vernehmbarer Stelle verkündet,
nämlich auf dem letzten internationalen Kongreß für historische Wissenschaften in Brüssel, wo er im Kreise der
französischen Forscher (die deutschen waren nicht vertreten) anscheinend großen Beifall bzw. Anklang fand.“
Aufgrund der veröffentlichten Akten dieses Kongresses (Compte rendu du Ve Congrès international des scien-
ces historiques Bruxelles 1923, publ. par Guillaume Des Marez et Fançois-Louis Ganshof [Bruxelles 1923]
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625