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Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941) 427
Begriffen und „Schlagwörtern“ – also für Ideengeschichte interessiert zu haben. Was sie
mit ihrem Doktorvater verbindet, ist das Bestreben, bei Methode und Themenauswahl
Präkonstruktionen zu vermeiden. Außerdem enthält ihre Dissertation auch das Thema,
das die Werke ihres Doktorvaters durchzieht : die Frage nach Kontinuität. Während Al-
fons Dopsch sich vor allem für die Kontinuität von der Antike zum Mittelalter interes-
sierte, beginnt die Kontinuitätsgeschichte vom Bild des „finsteren Mittelalters“ bei Varga
im Mittelalter selbst und reicht bis in die Moderne. Im Grunde handelt es sich bei ihrer
Geschichte des Bildes vom finsteren Mittelalter um eine Geschichte „de longue durée“.
Sie ist die erste, die sich mit der Entstehung und Entwicklung des Bildes – des „Schlag-
wortes“, wie sie es nennt – vom finsteren Mittelalter beschäftigt. Neben der Darstellung
des Weges, den dieses Bild in der Geschichte Europas nimmt, ist vor allem dessen Ur-
sprung häufig hervorgehoben worden : „Die Qualifikation ‚finsteres Mittelalter‘ hat näm-
lich ihren Ursprung im Mittelalter selbst, wie Lucie Varga nachgewiesen hat, und zwar
erwuchs sie aus der eschatologischen Betrachtung der noch aktuellen Vergangenheit“119.
Varga argumentiert, die Art des Bildes trage selbst Spuren mittelalterlichen Diskurses in
sich : „Die straffe Verallgemeinerung und apodiktische Ausschließlichkeit des Urteils zusam-
men mit der Einkleidung in eine Metapher lassen bei unserem Schlagwort in seiner äuße-
ren Form ein mittelalterliches Gepräge erkennen ; es steht eine Art der Urteilsfällung hinter
unserem Schlagwort, wie sie das Mittelalter gehandhabt hat“120. Sie untersucht zunächst
die Entstehung des Bildes von Finsternis und Zivilisation bereits im Neuen Testament, bei
dem mittelalterlichen Theologen Johannes von Salisbury (1115–1180) und anderen, die es
weiterentwickeln, bei Walther von der Vogelweide (um 1170– um 1230) oder in der mit-
telalterlichen Vagantendichtung der Carmina Burana. Sie beschäftigt sich anschließend mit
der italienischen Renaissance, in der Dante Alighieri (1265–1321) und Francesco Petrarca
(1304–1374) dieses Bild weiterführen. Es folgen Analysen zur Zeit des Humanismus und der
Reformation, in Wissenschaft und Philosophie im 16. und 17. Jahrhundert bis schließlich
zur Aufklärung – dem Höhepunkt des Bildes – und Johann Gottfried Herder (1744–1803).
„Der materialistische Monismus war die letzte Strömung, die durch ihre Weltanschauung
unser Schlagwort gestützt hat“121. Vargas Stil zeichnet sich aus durch Direktheit und wer-
tende Stellungnahmen, und so endet ihre Dissertation mit den Sätzen : „Der Ausdruck von
der ‚Finsternis des Mittelalters‘ war von Anfang an Schlagwort und Kampfparole. Es war der
Exponent einer Weltanschauung, die heute schon lange nicht mehr unsere ist.“122
119 Adriaan Hendrik Bredero, Christenheit und Christentum im Mittelalter. Über das Verhältnis von Religion,
Kirche und Gesellschaft (Stuttgart 1998) 66.
120 Varga, Untersuchung (wie Anm. 112) 9.
121 Ebd. 188.
122 Ebd. 189.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625