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Otto Brunner (1898–1982) 463
darum kein Zufall, dass sie nach dem politischen erfolgten „Anschluss“ von Entlassungen
und Vertreibungen aus der Universität kaum betroffen waren99.
Auf die Besonderheiten der habsburgischen monarchischen Reichsstruktur und die
verfehlte Staatsbildung war Brunner bereits in seinem wenige Wochen zuvor, unmittel-
bar nach dem „Anschluss“ geschriebenen Aufsatz „Österreichs Weg zum Großdeutschen
Reich“ ausführlich eingegangen. In einer gleichsam positiv gewendeten geschichtsphi-
losophischen Paradoxie wird hier das Manko der gescheiterten Staatsbildung durch die
Entstehung volkhaften Denkens unter der deutschen Bevölkerung des habsburgischen
„Gesamtstaats“ kompensiert.
Seit 1866, dem Ende des Deutschen Bundes und der Gründung des kleindeutschen
Reiches, seien die Deutschösterreicher des „Rückhalts am ganzen deutschen Volk be-
raubt“ gewesen und in „einen verzweifelten Daseinskampf mit den nichtdeutschen Völ-
kern der Monarchie“ geraten. „In diesem Kampf“, so Brunner, „erfuhren sie aber eins :
der nationale Gedanke, die Idee des Volkstums rückte völlig in den Mittelpunkt ihres
Denkens, nicht der Staat, das V o l k wird zur primären, leitenden Idee ihres Denkens
und Handelns. Vor allem an den Sprachgrenzen […] geschah etwas Großes und Einzig-
artiges : die entscheidende Gestaltung des volksdeutschen Denkens.“ Nachdem seit 1866
„staatliche Macht im zweiten Reich und volkhaftes, aber letztlich unstaatliches Denken
der Deutschösterreicher unverbunden nebeneinander“ standen, sei nun – 1938 – unter
Führung Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung „Österreich heimge-
kehrt“ in das (neue) deutsche Reich100.
Hiermit stellt sich für Brunner zugleich die Frage nach der Legitimation für die Kon-
zeptualisierung einer separaten österreichischen Geschichte101. Vor dem Hintergrund ei-
ner erneuten, an die ersten Überlegungen seiner Dissertation anschließenden Analyse der
geschichtlichen Funktion der habsburgischen Monarchie und der „inneren Struktur der
Donaumonarchie“ legt er in zwei weiteren Aufsätzen ausführlich seine Auffassung dar,
dass der „einheitliche Rahmen einer österreichischen Geschichte als Geschichte des ‚Staa-
tes‘ […] längst sinnlos geworden (ist)“102. Allerdings stellt Brunner nun, im Unterschied
99 Zur politischen Situation an der Wiener Universität und am Institut für Österreichische Geschichtsforschung
siehe Sebastian Meissl, Wiener Universität und Hochschulen, in : Wien 1938. Historisches Museum der
Stadt Wien. 110. Sonderausstellung, 11. März bis 30. Juni 1988 (Wien 1988) 197–209. Aus autobiographi-
schem Rückblick : Albert Massiczek, Ich war Nazi. Faszination, Ernüchterung, Bruch. Ein Lebensbericht :
Erster Teil (1916–1938) (Wien 1988) 118–120 und 170 ; Ders., Die Situation an der Universität Wien
März/April 1938, in : Wien 1938. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 2 (Wien 1978)
216–229 ; Friedrich Heer, Jugend zwischen Hass und Hoffnung (München 1971) 64–66 und 69–70.
100 Vgl. Brunner, Österreichs Weg (wie Anm. 66) 526f.
101 Zur jüngeren einschlägigen Diskussion siehe : Was heißt „österreichische Geschichte“ ?, hg. v. Martin
Scheutz, Arno Strohmeyer (Wien 2008).
102 Otto Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte, in : MIÖG 55 (1944) 433–439, hier 439.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625