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464 Reinhard Blänkner
zu seinem früheren, auf Deutschlands politische Position in der Mitte Europas fixierten
Blick, die Geschichte Österreichs und der Habsburger Monarchie in einen weiteren eu-
ropäischen Kontext. Eine „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung muß sich notwendiger-
weise zu einer europäischen Sicht weiten. Wir haben schon um der Geschichte von Volk
und Reich Willen die Aufgabe, die Geschichte Europas, seiner tragenden Ideen, seiner
Ordnungen und der sie zerstörenden Mächte ins Auge zu fassen“103. Und unter Hinweis
auf die Arbeiten von Carl Schmitt und Richard Ganzer betont Brunner an anderer Stelle :
„Nicht um Mitteleuropa geht es heute, sondern um die Gestaltung Europas in einem
Großraum eigener Prägung und die Ausschaltung raumfremder Mächte […]“104. In die-
sem Sinn hielt Brunner im Wintersemester 1944/45 eine Vorlesung über „Das Reich und
Europa“, das neben dem Bezug auf Schmitt und Ganzer vor allem an die nationalsozialis-
tischen Europakonzeptionen von Alfred Six anschloss105.
4.3 „Volksgeschichte ist das Gebot der Stunde“
Überblickt man Brunners zahlreiche, über sein wissenschaftliches Werk bis 1945 ver-
streute Äußerungen und Darlegungen über „Volk“ und „volkhaftes Denken“, das sich
vor allem in Österreich als kompensatorische Reaktion auf die mangelnde Staatlichkeit
formiert habe, so erscheint das in seinem 1939 in erster Auflage erschienene Hauptwerk
„Land und Herrschaft“ formulierte Postulat der „Volksgeschichte“106 als systematischer
Höhepunkt in der Kontinuität (seines) völkischen Denkens. Eine solche These übersähe
allerdings die Verschiebungen in den Diskursen über „Volk“ seit den 1920er Jahren107.
„Volk“, ebenso wie „Reich“ – zumal in der verknüpfenden Formel „Volk und Reich“ –
konnte nicht zuletzt darum eine prominente und schließlich hegemoniale Position im
politischen Begriffshaushalt dieser Zeit einnehmen, weil es eine semantische Projekti-
onsfläche bot, auf die sich nicht nur die verschiedenen politischen Strömungen im Mei-
103 Ebd. 438.
104 Ders., Habsburgermonarchie (wie Anm. 90) 82.
105 Ders., Vorlesung „Reich und Europa“, unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, Staatsarchiv Hamburg, NL
OB 622-2.9. In diesem Kontext steht auch Brunners am 21.01.1945 in Berlin gehaltener Vortrag „Otto der
Große“, in dem er, bereits unter dem Eindruck der Zusammenbruchs des NS-Regimes, das Ziel eines „Neuen
Europa“ propagiert. Das Manuskript des unveröffentlichten Vortrags befindet sich ebd. 622-2.8. Siehe hierzu
auch Hans-Henning Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen. Aus den letzten Tagen der reichsdeut-
schen Mediävistik, in : HZ 299 (2014) 297–333. Der Gesamtkontext ist Kortüm, auf dessen fragwürdige
Brunner-Deutungen hier nicht näher einzugehen ist, entgangen.
106 Brunner, Land und Herrschaft (wie Anm. 2) 194.
107 Siehe hierzu weiter ausgreifend Peter Brandt, Volk, in : Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhun-
derts, hg. v. Annika Hand, Christina Bermes, Ulrich Dierse (Archiv für Begriffsgeschichte Sh. 11, Ham-
burg 2015) 395–433.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625