Seite - 528 - in Österreichische Historiker - Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
Bild der Seite - 528 -
Text der Seite - 528 -
528 Jiří Němec
den hatte, selbst wenn seine Wirkung da und dort noch lange auf sich warten ließ, aber :
So wie vorher konnte und sollte es nicht mehr sein.
In den Frühjahrstagen 1965 kam es im Zentrum von Wien zu den bis dahin gewalt-
samsten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte Österreichs, die in Ausschreitungen
zwischen antifaschistischen und sozialistischen Demonstranten einerseits und nationa-
listischen bzw. rechtsextremen Demonstranten andererseits kulminierten. Am 31. März
1965 wurde der ehemalige Widerstandskämpfer und Kommunist Ernst Kirchweger (geb.
1898) im Zuge der Ausschreitungen von einem als Neonazi bekannten, vorbestraften
Hochschulstudenten schwer verletzt. Als Kirchweger am 2. April starb, wurde er zum ers-
ten politischen Todesopfer der Zweiten Republik. Die Ausschreitungen hatten sich an der
Person des dreiundsechzigjährigen Hochschulprofessors Taras Borodajkewycz entzündet,
der am Beginn der 1960er-Jahre Vorlesungen mit neonazistischem und antisemitischem
Vokabular gehalten hatte und deshalb von kritischen Journalisten in den Medien sowie
von sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament scharf kritisiert wurde. In der be-
liebten TV-Kabarettsendung „Zeitventil“ wurde Borodajkewycz karikiert5.
Verlässt man aber den Kontext von Neonazismus und Antisemitismus in Österreich
nach 1945 und fragt nach der Person Borodajkewycz, nach dem Lebenslauf dieses Histo-
rikers und den Wurzeln seines Denkens, ist keine zufriedenstellende Antwort zu finden.
Denn bisher liegt keine eingehende biografische und wissenschaftsgeschichtliche Analyse
vor, die Borodajkewycz in den weiteren Kontext der österreichischen Geschichtswissen-
schaft einordnen und Fragen nach Kontinuität oder Diskontinuität seines Denkens, Le-
bens und seiner Karriere stellt6. Diese Tatsache überrascht umso mehr, als man schnell
erfahren kann, dass er ein enger und vielleicht der treueste Mitarbeiter des einflussreichen
österreichischen Historikers Heinrich (Ritter von) Srbik war und somit der Wiener his-
torischen Schule entstammte7. Borodajkewycz, ein katholischer und deutschnationaler
Intellektueller mit deutlicher Affinität zum Faschismus, weist ein Leben und eine wis-
senschaftliche sowie politische Karriere auf, die sich einer einfachen Einordnung wider-
setzen. Der Umstand, dass dieser mit einem päpstlichen Orden ausgezeichnete Katholik,
Großdeutsche, Nationalsozialist, zeitweilige Mitarbeiter der sowjetischen Militäradminis-
tration in Österreich und schließlich Schützling der Österreichischen Volkspartei (ÖVP)
5 Zu den Ereignissen Mitte der 1960er-Jahre siehe auch unten.
6 Vgl. Art. „Borodajkewycz, Taras (von)“, in : Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein
biographisch-bibliographisches Lexikon, bearb. v. Fritz Fellner, Doris A. Corradini, (VKGÖ 99, Wien/
Köln/Weimar 2006) 63, wo nur Aufsätze in Zusammenhang mit dem „Fall Borodajkewycz“ genannt sind.
7 Martina Pesditschek, Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951). „Meine Liebe gehört bis zu meinem Tod
meiner Familie, dem deutschen Volk, meiner österreichischen Heimat und meinen Schülern“, in : Österrei-
chische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945 2, hg. v. Karel Hruza (Wien/Köln/Weimar 2012)
263–328.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625