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558 Jiří Němec
bezirk gewählt. Nach einem Schulungskurs im Herbst 1938 erwies er sich als ungeeignet
für eine ideologische Schulung, da er mit seiner allzu kritischen, stark pessimistischen
und in politischen Fragen teilweise wenig glaubhaften Denkweise auf Kritik stieß. Trotz-
dem attestierte ihm ein nationalsozialistischer Kursleiter das Bemühen um eine positive
Klarstellung schwebender Fragen, obwohl er sehr misstrauisch gegenüber Borodajkewycz’
Versuchen, eine philosophische Entwicklungslinie zum Nationalsozialismus hin zu ziehen
berichtete143. Zudem lässt sich feststellen, dass Borodajkewycz auch Mitarbeiter des Gau-
archives der NSDAP war. Schließlich wurde sein Name in wenig konkreter Weise mit
dem Sicherheitsdienst (SD) der SS in Verbindung gebracht : Er sollte als Vertrauensmann
des illegalen SD gewirkt haben144. In der bereits zitierten Beurteilung des Parteigenossen
Kasper wurde vermutet, dass Borodajkewycz im Auftrag des SD – worüber er natürlich
nicht spricht – vertrauliche Missionen durchführte, so nach Rom zur letzten Papstwahl ; nach
Agram, München, Berlin etc.145.
Mehr ist aus dem Gauakt nicht zu erfahren. Etwas ausführlichere Auskünfte enthalten
Quellen der SS zum SS-Hauptsturmführer Wilhelm Höttl, einem Wiener SD-Mitarbeiter
und späteren Zeugen der Anklage in den Nürnberger Prozessen. Gegen Höttl wurde (wie
gegen Borodajkewycz) 1941–1942 ein Disziplinarverfahren geführt. Höttl war gebürtiger
Wiener, der seit Herbst 1933 an der Wiener Universität Geografie, Sprache und Ge-
schichte studiert und im November 1937 mit einer Dissertation über Friedrich Ludwig
Jahn und die deutsche Turnbewegung bei Srbik promoviert hatte. Er war Mitglied im
Deutschen Turnerbund gewesen, trat mit 16 Jahren in den NS-Schülerbund ein, wurde
143 War bei der aufgelassenen Ortsgruppe Sandwirtgasse als Schulungsleiter tätig, wurde aber von diesen Parteidienst
nach kurzer Zeit enthoben. ÖStA AR, BMI/GA, 217 R, Taras Borodajkewycz, S. 40, Politische Beurteilung
vom Gaupersonalamt vom 01.12.1942. Die Zitate entstammen einer Beurteilung durch den Schulungsleiter
und zeigen, welche Schwierigkeiten die parteiliche Bürokratie mit Borodajkewycz’ Persönlichkeit hatte : Still,
tätig, macht oft einen auf eine rein persönlichen Basis zurückgezogenen Eindruck. Packt alle Probleme denkerisch
an. Gefühlswerte scheinen eine durchaus untergeordnete Rolle zu spielen. Sieht die weltanschaulichen Aufgaben zu
sehr mit dem Auge des wissenschaftlich geschulten Philosophen. Versucht eine philosophische Entwicklungslinie zum
Nationalsozialismus hin zu ziehen. Gefahr ! […] Bemüht sich ehrlich um eine positive Klarstellung schwebender
Fragen. Ist seiner Haltung nach stark pessimistisch. Packt daher die schwebenden Politischen Fragen nicht gläubig
genug an. Sieht überall zu leicht Gefahren. Soll bei seiner Schulungsarbeit geprüft werden, aber von einem Kame-
raden, der ihm gewachsen ist. Ich bin nicht der Meinung, dass er in der Ortsgruppe nicht schulen dürfte. Vielleicht
auch einmal von einem Historiker seine Geschichtsvorlesungen abhören lassen. Ebd. S. 41, Beurteilungsbogen des
Gauschulungsamtes Wien vom 27.10.1938.
144 Ebd.
145 ÖStA AR, BMI/GA, 217 R, Taras Borodajkewycz, S. 36, Politische Beurteilung vom 07.12.1942. Von diesen
seinen Missionen im Dienst des SD ist wenig bekannt. Nach dem Tod Pius’ XI. nahm der SD ein Angebot
von Borodajkewycz an, ihn nach Rom als einen SD-Beobachter der neuen Papstwahl zu entsenden. Seine Be-
richte waren angeblich ungenau und irreführend. David Alvarez, Robert A. Graham, SJ, Nothing sacred.
Nazi Espionage Against the Vatican 1939–1945 (London 1997) 66. Vgl. auch unten Anm. 163.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625