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594 Jiří Němec
gangene Habsburgermonarchie als ein Europa stabilisierendes Reich der Mitte mit einer
deutschen Geschichtssendung in Ost- und Südosteuropa zurückblickte287. Erst in der
öffentlichen Debatte um Identität und Begriff des „österreichischen Volkes“ seit Mitte der
1950er-Jahre kehrte Borodajkewycz als Advokat der „deutschnationalen“ Identität der
Österreicher in den Geschichtsdiskurs zurück288. Dabei versuchte er, die „gesamtdeutsche
und andere Prozesse sorgfältig. Über diese Lektüre schrieb er an Höttl (wie Anm. 284284284) : Die Publika-
tionen von [Gian Galeazzo] Ciano, [Grigore] Gafencu, [Hermann] Rauschning und [Folke] Bernadotte sind Dir
wohl nichts Neues […]. Man ist immer wieder erschüttert über die Leichtfertigkeit und Dummheit, mit der diese
Ignoranten und Emporkömmlinge, die geistig auf dem Niveau von fünfzehnjährigen Buben stehen geblieben waren
und über Felix Dahn und etwas Richard Wagnerschen Feuerzauber nicht hinausgekommen waren, Politik mach-
ten. Was natürlich nicht heissen soll, dass ich für den Rest des Jahrhunderts optimistischer gestimmt bin. Kennst Du
übrigens das Buch des Altmeisters unserer Wissenschaft, Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe“ ? Es enthält
wie alle Bücher Meineckes eine Fülle tiefster und reifster Erkenntnisse und ist ergreifend in der radikalen Absage an
die Staatsräson, deren Idee er selbst vor 20 Jahren und seinem damals aufsehenerregenden Werk herausgestellt und
verständlich zu machen suchte. Es ist aber auch erschütternd in der Hilflosigkeit einen Ausweg aus dem Dilemma
der Gegenwart zu finden : er empfiehlt eine Rückkehr zu den Lebensprinzipien der Goethezeit ! Zu schön, um wahr
zu sein. In einem Zeitalter, in dem im privaten wie auch im politischen Dasein der Hausmeister mit seinem Fra-
gebogen zu einem entscheidenden Bestandteil der Existenz geworden ist, können wir leider nicht mehr Hermann
und Dorothea spielen. Wir werden leider neue Wege finden müssen, die wenig Reiz haben mögen für jemanden,
der dieses alte Abendland so leidenschaftlich liebt wie ich. Aber bei aller Liebe gebe ich mich keiner Täuschung hin
und weiss, dass es zu Ende und nur mehr ein grosses Museum oder Objekt mehr oder weniger geistvoller Reflexionen
geworden ist. Das macht mich oft wirklich sehr traurig.
287 Vgl. T. B. (= Taras Borodajkewycz), Wie Österreich mit seinen Gelehrten umgeht. Gedanken zu Heinrich
v. Srbiks neustem Werk „Aus Österreichs Vergangenheit“, in : Freie Stimmen 02.04.1949 3.
288 Borodajkewycz lehnte den Begriff der „österreichischen Nation“ ab, da nach ihm die Österreicher eindeutig
und immer dem deutschen Volk angehörten und angehören, selbst wenn sie mit Österreich einen eigenen
Staat besaßen. Vor allem seine in der Zeitschrift Aktion : Monatsschrift für politische Neuordnung 1. Jg.,
August 1965, erschienene Antwort gegen die Auffassung von Ernst Hoor von einer „Anti-österreichischen
Geschichtsfälschung“ österreichischer Historiker erweckte großes Aufsehen. Im seinem Aufsatz unter dem
Titel „Geschichtsfälschung für die ‚österreichische Nation‘“ sprach Borodajkewycz unter Berufung auf fach-
wissenschaftliche Fähigkeiten der Historiker (und die Unfähigkeit Hoors) über „das Geflunker von der ‚ös-
terreichischen‘ Nation“ und über das „Hirngespinst der ‚österreichischen Nation‘“ und lehnte diesen Begriff,
der ihm als „ein blutleerer Literatenhomunkulus“ galt, als eine politische Konstruktion der Nachkriegszeit
ab. Der Begriff gehörte für ihn „zu den unerfreulichsten Überresten des an Gesinnungs- und Würdelosigkeit
reichen Jahres 1945“. Das Thema griff er später immer wieder auf, so z.B. in : Die Deutschen, Österreich
und der Donauraum, in : Neues Abendland 11 (NF, 1956), Heft 4, 323–331 ; Von Volk und Staat in Öster-
reich (wie Anm. 277). Zum Streit über die österreichische Identität siehe z.B. Friedrich Heer, Der Kampf
um die österreichische Identität (Wien/Köln/Graz 1981) 9–22 ; Fritz Fellner, Die Historiographie zur
österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in : Österreich und die
deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Heinrich Lutz, Helmut Rumpler (Wien 1982) 22–59 ;
Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen (Wien/Köln/Graz
1984) ; Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung (Wien/Köln/
Graz 1984) ; Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität,
Waldheim und die Historiker, hg. v. Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel (Frankfurt M./New York 22008)
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625