Seite - 601 - in Österreichische Historiker - Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
Bild der Seite - 601 -
Text der Seite - 601 -
Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984) 601
lange Schatten auf die „deutsche“ Vergangenheit werfen würde. Auch seine Freundschaft
mit Höttl war wegen dieser seiner Einstellung für Jahre abgekühlt, worüber eine Kor-
respondenz in seinem Nachlass informiert. Borodajkewycz warf Höttl dessen bekannte
Zeugenaussage vor den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen vor, mit der Höttl Adolf
Eichmanns Äußerung über 6 Millionen ermordete Juden publik machte. Diese Aussage
Höttls sah Borodajkewycz als sehr unglückliche Handlung an, konnte sie seinem Freund
nicht verzeihen und hoffte, dass sie relativiert oder noch besser vergessen würde : Du
weisst, dass ich als Historiker, für den die Geschichte im Sinne Rankes eine „Gewissenssache“
ist, für die Wahrheit bin. Dennoch bin ich der Meinung, es wäre besser gewesen, die Sache mit
den 6 Millionen nach 30 Jahren nicht nochmals zu Ungunsten unseres Volkes aufzuführen,
sondern es bei der Nürnberger Aussage zu belassen313. Höttl lehnte eine solche, von ihm
als sehr gefährlich empfundene Relativierung aber mit Berufung auf seine bloße Ver-
mittler- und Zeugenrolle ab verwies auf die lebenswichtige Notwendigkeit, der Jugend
die volle Wahrheit – im Positiven wie im Negativen – mitzuteilen314. Für Höttl war es
moralisch vollkommen irrelevant, ob man von sechs, fünf oder noch weniger Millio-
nen Opfern der nationalsozialistischen Judenvernichtung sprach, weil auch 100.000 […]
nicht zu verantworten seien315. Borodajkewycz’ späte Texte transportieren offen eine revi-
313 Dieser Stelle geht voraus : Zu den 6 Millionen, die mein Hauptanliegen an Dich bei unserem Herbstgespräch in
Aussee waren : Ich bin über Deine neue Aussage tief unglücklich und deprimiert. Ich hatte gehofft, dass es gelingen
könnte, einen Teil der entsetzlichen Last von unseren und den Schultern unseres Volkes wegzubringen, wenn sich
herausstellt, dass Eichmann seine Äusserung in einer alkoholisierten Budapester Nachtstimmung von sich gegeben,
wie ich von Dir in Erinnerung zu haben glaubte. Deine jetzige Darstellung lässt keine Hoffnung mehr, sondern ze-
mentiert die 6 Millionen für alle Zeiten. Es besagt nichts, das Du selbst heute die Vernichtung der Juden verurteilst,
mit der Du selbst gottlob nichts zu tun hattest – die Zahl „6 Millionen“ ! bleibt mit Deinem Namen verbunden
und eine fürchterliche Hypothek für Deutschland. Ich gebe Dir natürlich recht, dass es moralisch belanglos ist, ob
die Zahl der 6 Millionen durch das Vernichtungswerk auch erreicht wurde und die Wirklichkeit darunter liegt, was
ich als Historiker für sehr wahrscheinlich halte. Der Staat Israel setzt die 6 Millionen, mit denen er operiert, in gi-
gantische finanzielle Forderungen an Deutschland um. [/] Fazit : Wir sind mit unserem grossdeutschen Idealismus,
der für unser Volk wie auch für die anderen Völker nur das Beste wollte, einer in unserer Geschichte einmaligen
Verbrecherbande aufgessesen, die Verbrechen am Menschen unseres Volkes waren nicht geringer als die an den Juden
(Beispiel Ketteler). Borodajkewycz’ an Höttl am 19.04.1975 (ÖStA KA, NL TB, Sig. B1251/187).
314 Ebd., Schreiben Höttls an Borodajkewycz vom 14.03.1975.
315 Höttl hat diese seine Meinung auch in Briefen an Borodajkewycz’ Frau und Sohn geäußert. Die zitierte Stelle
entstammt einem Schreiben Höttls an Olaf Borodajkewycz vom 13.05.1982. Ebd., Sig. B1251/37. Ähnlich
schrieb er an Frau Borodajkewycz am 02.06.1982, weil sein schwerkranker Freund nicht mit ihm selbst kom-
munizieren wollte : Du erwähnst in Deinem Brief Drohbriefe, die mir wegen dieser Eichmannaussage geschickt
wurden, bis zu Todesdrohungen. Nun, ich kann mich nur an wenige erinnern, habe auch keine aufgehoben, son-
dern diese immer gleich in den Papierkorb geworfen. Bedauerlich erscheint mit nur, wenn junge Menschen so etwas
schreiben – oder auch nur glauben – aber schuld sind die Älteren, die diese Jugend nicht entsprechend aufgeklärt
oder bewussst falsch informiert haben, wie das ja in Österreichs (erst recht in Deutschlands) Schulen gang und gäbe
war – und zum Teil noch ist. Die Jugend muss die volle Wahrheit erfahren, im Positiven wie im Negativen. Wenn
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 3
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 3
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 630
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625