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3 Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit

Vorbemerkung
Die Werke in diesem Kapitel stellen wirklich-unwirkliche Phänomene dar, Möglichkeiten, Vermutungen, Zusammenhänge, die sein können - aber nicht sein müssen. Das Verschwimmen von Sein und Schein, das mögliche Unmögliche, die Ausweglosigkeit des an sich Möglichen, das »Warten auf Godot«, das Auseinanderbrechen von Beziehungen, »das Unmögliche wagen« (Don Quijote). Bei diesen Bildern geht es nicht um physische, sondern um psychische Vorgänge - nicht um die Zerstörung sondern um die Verstörung der Welt. Menschliche Beziehungen sind abgebrochen, unterbrochen oder hatten von Anfang an keine Chance, sich zu entfalten. Menschliches Bemühen ist fehlgeschlagen oder die Dinge entwickeln sich in eine völlig unerwartete Richtung. Auch hier wieder - vor allem in den Bildern der Sechzigerjahre - scheint der Einfluss des französischen Existentialismus noch spürbar zu sein. In den siebziger Jahren werden die Themen leichter, spielerischer, nicht ganz so pessimistisch.

Gerade an diesen Bildern erkennt man den Unterschied zwischen dem »traditionellen« und dem »phantastischen« Surrealismus: während im einen den Motivelementen in der Regel jeder Zusammenhang fehlt, vereinigen sie sich im anderen zu einer gemeinsamen - wenn auch unkonventionellen - Aussage.

Der kleine Grüne
Der kleine Grüne (1960), Mischtechnik auf Hartfaser, 22x17, PB

Die Begegnung mit dem Surrealen

Beim flüchtigen Hinsehen vermeint man in dem nur etwa A5-großen Bildchen ein Werk der Renaissancemalerei vor sich zu haben. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man im Insektenmotiv seinen surrealen Charakter. Es handelt sich um eine märchenhafte Szene - das Motiv erinnert an das französische Märchen »La belle et la bete« (Die Schöne und die Bestie) von Jeanne Marie Leprince de Beaumont (1711-1780), das 1946 unter demselben Titel von Jean Cocteau verfilmt wurde und 1994 in New York als Musical herauskam.

Zuletzt verliert der Mensch die Eitelkeit
Zuletzt verliert der Mensch die Eitelkeit (1960), Mischtechnik auf Papier auf Holz, 42x29, PB

Vanitas humana

Wie tief kann der Mensch sinken? Wie weit reicht die Würde eines (alternden) Menschen, wie stark konkurriert sie mit Eitelkeit und Stolz? Kurt Reg-schek stellt in diesem Bild die These auf, dass wir bis zum letzen Atemzug eitle, selbstgefällige Wesen bleiben. Eine menschliche Umwelt existiert auf diesem Bild nicht mehr. Bis auf ein unbestimmtes Nachtschattengewächs gibt es rundum nichts Lebendes mehr. Dunkle Felsen mit bösen Spitzen und unwirkliche Wolken bilden den Hintergrund des Geschehens. Der Mensch, androgyn dargestellt, steht in einer riesigen braunen Pfütze - auf einem Bein, denn das zweite hat die Jammergestalt verloren, es wurde durch einen vergoldeten Tischfuß ersetzt. Nackt und bloß steht eine einst wohl schöne Gestalt vor uns, jetzt ausgemergelt bis auf Rippen und Sehnen, mit verlorenem Blick. Ein dünnes (Leichen)Tuch bedeckt ihre Scham und dennoch - ein modischer Hut in leuchtendem Orange, kühn mit einer mächtigen Pfauenfeder durchbohrt, ziert ihr Haupt. Und ihren Hals umschließen die Reste eines stattlichen Pelzes. Eine Absurdität? Das Bild regt zum Nachdenken an - wie sehr darf der Mensch sich schmücken und wo beginnt die Vanitas - die Eitelkeit und geistige Leere - die den Menschen zu einer Karikatur seiner selbst werden lässt.

Das 'über'liebe Kind
Das "über"liebte Kind (1961), Mischtechnik auf Papier auf Holz, 25x32, PB

Gut gemeint?

Der dürre Baum symbolisiert die väterliche Autorität und die Verwurzelung in der Tradition, während die Mutter als Vehikel zum Kind durch die ermatteten roten Rosen und das pulsierende Herz im weiblichen Becken dargestellt ist. Die Verbindung zwischen Mutter und Kind wird durch Blutgefäße hergestellt; zum Vater führt allein ein dürrer Ast. Unter einer Käseglocke elterlicher Fürsorge und ausschließlicher Zuwendung wird bona fide ein kleiner Despot oder eine »Prinzessin Möchtegern« herangezogen. Neben der über den Kopf des dicklichen Kindes gehängten Käseglocke ist es der den gesamten Körper und dessen Umgebung deckende dunkelrote Faltenwurf, der die übertriebene Betreuung und die dadurch erzeugte Macht des Kindes symbolisiert. Es scheint, als würden die offenbar nicht mehr ganz jungen Eltern pausenlos Energie in ihren einzigen Sprössling pumpen. Dadurch wird dieser seiner natürlichen Bewegungsfähigkeit beraubt, was durch das Fehlen des linken Armes und die kegelförmige Statik der Figur des verhüllten Kindes ausgedrückt wird. Das den Vordergrund beherrschende dunkle Purpurrot ist Ausdruck zu intensiver Liebe, während der tiefe Pessimismus der violett getönten Landschaft im Hintergrund und der fahlgelb bis dunkelblaue Himmel die Trostlosigkeit zukünftiger Entwicklung andeuten.

Cafe zur unerfüllten Erwartung
Cafe zur unerfüllten Erwartung (1962), Mischtechnik auf Holz, 63x78, PB

»Warten auf Godot«...

Menschen sitzen im Cafe, dem Ort, an dem man die Zeit wohl am angenehmsten totschlägt (ins Kaffeehaus gehen Leute, »die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen« - Alfred Polgar}. Sie nehmen einander nicht zur Kenntnis, belauern einander aber vielleicht insgeheim und warten, dass etwas passiert. Zu essen oder zu trinken gibt es nur ganz hinten etwas; auf dem Billard tisch wird nicht gespielt. Es passiert nichts! So vermodert einer in der Ecke hinten, Fenster und Türen wachsen langsam zu und die Bodenbretter verfaulen, bis sie durchbrechen. Ist das der »Warteraum zur Hölle?« Vorbild war der auch bei Elfriede Jelinek (Die Ausgesperrten, 1980) beschriebene einstige Künstlertreff »Cafe Sport« in der Schönlaterngasse. Kurt Reg-schek taucht den holzgetäfelten Kaffeehausraum unter den uralten Gewölben mit den einbeinigen Marmortischen und dem wuchtigen Billardtisch in ein düsteres, pessimistisches Dunkelbraun. Männer und Frauen, jugendliche Schönheit und reifes Alter, warten bewegungslos »auf bessere Zeiten«. Eine besondere Wirkung geht von den Augen der jungen Frau aus. Der Mann im weißen Hemd mit Baskenmütze und Absinthflasche im Fluchtpunkt mag eine wohl unbewusste Reminiszenz des Künstlers an eine Szene in einem Pariser Straßencafe sein.

Im Gespräch mit Monika Bugs formulierte der Künstler:

Cafe zur unerfüllten Erwartung ?

»Das ist das Endspiel. Auch wieder ein böses Ding in Bezug auf unsere Sozietät. Du kommst ins Hawelka [ein bekanntes Wiener Künstlercafe] hinein um zehn Uhr vormittags oder um vier Uhr nachmittags oder um zwei Uhr früh, es sind immer dieselben Leute dort. Sie tun immer dasselbe, sie reden immer dasselbe, und sie verändern sich nicht. Wozu sind die eigentlich da? Gehen die überhaupt jemals weg? Was passiert dort? Die haben auch keine Beziehung zueinander.«

Wir haben über das Phänomen heutiger Kommunikation gesprochen: wir haben alle Kommunikationsmöglichkeiten und nehmen sie nicht wahr. Ein ganz aktuelles Thema.

»Die Menschen nehmen einander nicht wahr. Das Mädchen sitzt da, nimmt die anderen nicht zur Kenntnis, dafür schämt sie sich nicht in ihrer Nacktheit. Der Mann schaut dorthin, und hinten sitzt ein Toter, der verwest schon längst. Und die anderen haben das nicht bemerkt. Sie tun nichts. Und da ist nichts, was typisch für ein Cafe ist, ein Glas oder ein Kaffee ... Es wird auch nicht serviert in dem Cafe. Es ist wie das Stück von Sartre - >Huis-clos<

( »Geschlossene Gesellschaft«, 1944)«.

Familienleben
Familienleben (1964), Mischtechnik auf Holz, 100x125, PB

Struktur einer Familie

Ein wirklichkeitsbezogener Bildtitel?

Im Hintergrund zieht der (weit entfernte, d.h. in der Praxis wohl oft abwesende) Familienvater eifrig die Fäden, von denen die meisten aber schon gerissen sind. Die Szenerie des Theaterstücks »Familie« ist starr (»plötzlich steht alles still wie im Domröschen«). An sich sind die einzelnen Familienmitglieder positiv gezeichnet, nur funktioniert das Zusammenspiel offenbar nur dann, wenn einer die Regie führt, weshalb alle offenbar auf einen Punkt blicken. Die attraktive Mutter dreier Kinder (Vorbild war eine bekannte österreichische Schauspielerin) steht im Zentrum der Szene, ist aber mitten in einer anmutigen Bewegung zur Puppe erstarrt. Das helle Licht ist von der Bühne gewichen, es dominieren die Schatten, die sich über die kleine Gemeinschaft gelegt haben. Der Vater steht in der Kulisse, und wie in einer Einöde befindlich, kann er die Familie nur indirekt erreichen. Die Ferne wird durch das mehrfach verwendete Blau, das äußerst sparsame Rot und die für Kurt Regschek typischen - hier aber nur angedeuteten - »Stalagmiten« (vgl. »Zentrum Wien«, Seite 169) ausgedrückt. Heute, nach mehr als vier Jahrzehnten, wäre wohl das Motiv eines die Fäden ziehenden Vaters in dieser Form kaum mehr denkbar.

Gläserne Türme
Gläserne Türme I (1967), Öl auf Hartfaser, 44x59, PB

Endzeit

Durch ihre eigene Schuld hat die Menschheit die Erdoberfläche unbewohnbar gemacht. An die Stelle begrünter Berghänge und fruchtbaren Ackerlandes sind in orangen Farbtönen gehaltene glühende Ebenen und Felsenformationen getreten, die aus abgestorbenen, blassvioletten Gewässern ragen. Die Menschen mussten die Bodennähe fliehen und haben sich in hohe, phallische Türme aus buntem Glas zurückgezogen, in deren kugelförmigen Enden sie nun isoliert dahinvegetieren. Rauch aus den Türmen eines Fernheizwerkes bildet das einzige Lebenszeichen.

Kurt Regschek:

»Die Menschen bringen es noch so weit, dass die Welt nicht mehr bewohnbar ist. Daraufhin ziehen sie sich zurück in Kunststoffbehälter ungeheueren Ausmaßes, sonst können sie nicht mehr leben. Das ist eine Vision, die mich bis heute beschäftigt. Die Menschen werden auf eine Idee kommen zu überleben, aber nicht mehr in der freien Natur, sondern z.B. in Kunststofftürmen mit Filtern. Ich finde, die Menschen sind jetzt schon wahnsinnig, wenn so etwas überhaupt nur in Erwägung gezogen wird.«

In der Tat mussten in den USA durchgeführte großangelegte Experimente mit der Isolierung von Menschen in voll versorgten Glashäusern nach wenigen Monaten abgebrochen werden, weil Menschen totale Abschottung und Kommunikationslosigkeit auf Dauer nicht aushallen.

Don Quijote II
Don Quijote II (1978), Grisaille, 33x25, PB

Hoffnungslose Liebe

Der Träumer und Utopist auf dem Klappergaul Rosinante ist für Kurt Regschek das beste Beispiel dafür, dass ein Mensch nur dann zum Helden, zum Dichter und Poeten werden kann, wenn er ganz von Liebe ergriffen wird. Tiefe Sehnsucht und große Naivität liegen im Gesichtsausdruck des tragischen Helden, der seiner angebeteten Schönheit - sie ist in Wahrheit die Wirtshaushure Aldonza, die er aber beharrlich »My Lady Dulcinea« nennt - eine Distel mit zwei Blüten überreicht. Unbeirrt von ihrem (Be)ruf erblickt er in ihr das Licht kosmischer Schönheit. Getragen von tiefer Zuneigung, ist er sogar bereit, für sie sein Leben zu geben. Als Helm trägt der Träumer eine »Baderschüssel«, eine flache Schüssel, die nicht nur zum Rasieren sondern auch zum Aderlass verwendet wurde. Stehen die Flammen über Don Quijotes Kopf für seinen in Liebe entflammten Geist? Wird er bereits der Erde entrückt? Wohl etwas von beidem...

Cellomädchen
Das Cellomädchen (1990), Öl auf Leinwand, 135x80, PB

Liebevoller Surrealismus

Wäre das Cellomädchen von Rene Magritte, wäre es weltberühmt. Doch so verweilt es bescheiden im Privatbesitz und lauscht versunken dem hohen Vi-brato, das es der A-Seite seines Instruments, nein - sich selbst entlockt. Man müsste einen Musiker, vor allem einen geübten Cellisten fragen, wie nahe ihm diese Darstellung geht. Hält er nicht Tag für Tag einen vertrauten Gegenstand, ja ein geliebtes Wesen zwischen den Beinen? Auf dem 1990 entstandenen Bild spielt sich dieses Wesen selbst. Auch die einsame Violinistin unter den dominant männlichen Philharmonikern - beim Neujahrskonzert 2004 oft im Visier der TV-Kamera - oder auch die nackten Schultern von Ann-Sophie Mutter kommen einem da in den Sinn. Und weitere Assoziationen tauchen auf, vor allem erotische. Man spricht doch davon, ein Instrument durch Streichen (Streicheln?) zum Leben zu erwecken. So viel innige Erotik auf einem Fleck! Die langen Haare, die auf die Schultern des Cellokörpers fallen, die Mädchenbrüste, die sich aus dem kostbaren, schwingenden Holz der Geige wölben, die weit geöffneten Beine und der lange Stachel des Instruments ... Genug davon, wir wissen, wie Kurt Regschek es verstand, Eros und Sexus gleichzeitig zu beschwören und auseinander zu halten. Viele seiner Werke vibrieren vor Erotik und doch wirkt keines von ihnen geschmacklos - in einer oft sehr geschmacklosen Zeit. Übrigens: Das Bild entstand aus einer Augenblickseingebung, als Ulli, eines seiner liebsten Aktmodelle, Kurt fragte, ob sie eben schnell ein wenig Cello üben dürfe. Der Münchner Kunstkritiker Reinhard Müller-Mehlis bezeichnete dieses große Ölbild einmal als Regscheks bestes Werk.

Kleines surreales Wunder
Kleines surreales Wunder (1992), Öl und Grisaille auf Leinwand, 70x98, Wiener Städtische Versicherung

Der Meister und sein Modell

Pygmalion - er war König von Zypern und ein berühmter Bildhauer - verliebte sich in eine von ihm selbst geschaffene Elfenbeinstatue eines Mädchens. Er bat Aphrodite, seinem Werk Leben einzuhauchen. Die Göttin erfüllte seinen Wunsch und so konnte der Künstler sein Mensch gewordenes Werk zur Frau nehmen. Ein für jeden Künstler faszinierender Mythos, den auch Magritte in seinem »Versuch des Unmöglichen« (1928) aufgreift. Bei Kurt Regschek spielt eine Prise Humor mit, wenn ihn sein Modell von der Leinwand aus leicht auf die Schulter tippt, um ihn aufmerksam zu machen, dass aus dem Gemälde bereits ein lebendiges Wesen wird - »Hallo, ich bin schon da!« - welch ein Unterschied zur todernst-steifen Haltung des Malers und seines lebendig werdenden Modells bei Rene Magritte (»Der Verrat der Bilder«, 1928/29).

Kurt Regschek auf die Frage von Monika Bugs:

»Maler und Modell. Das Bild, das Du von dem Modell malst, wird lebendig. Dein Surrealismus. Verblüffend, die Portrait-Zeichnung von Dir in Rückenansicht. Das bist wirklich Du! Wie hast Du das gemacht?« »Mit zwei Spiegeln. Ich kenn' mich ja auch ein bissl. [Lachen]«


© Bild und Texte Peter Diem und Anton Wladar