4 Animistische Landschaften
Kurt Regschek:
In den frühen Naturreligionen bewohnten übernatürliche Wesen (Geister oder Seelen) Objekte der organischen oder anorganischen Natur, wie z.B. Tiere, Bäume, Quellen, Flüsse, Berge, Erde, Feuer und Luft oder gar die Gestirne. Magische Wesen und Gottheiten wurden bestimmten Orten zugeordnet - so entstanden Kultstätten, Tempel und später Wallfahrtsorte.
Kurt Regschek, an allen magischen und esoterischen Phänomenen interessiert, weit gereist und von jeder Form von »Kraftorten« angesprochen, gibt der Landschaft mystische, surreale aber oft auch ganz reale zusätzliche Merkmale - vor allem auch solche des ebenmäßigen Frauenkörpers.
Meeresablagerungen, die auch an Atompilze denken lassen, bedecken die Erde. Alles ist in der großen Flut umgekommen, aber schon stapft der Mensch, Träger eines ungebrochenen Fortschrittgedankens, wieder daher. Der Künstler stellt einem in orange-graugrün gehaltenem, leblosen Katastrophenszenario ein völlig konträres, lebendiges Motiv gegenüber: pars pro toto symbolisieren Knie und Schenkel den Menschen, der optimistisch dasteht, obwohl er bei seinem ersten Schritt gleich wieder einbricht. Die Stufenformation am unteren Bildrand drückt - ebenfalls pars pro toto - aus, dass die Sintflut eine ganze Zivilisation vernichtet hat. Das sehr in die Breite gezogenen Format verdeutlicht ebenfalls die verheerende Wirkung der Sintflut (Gen 7,20 f.).
Die Erzählung vom Berggeist Rübezahl hat das Riesengebirge berühmt gemacht. Nach der Sage beherrscht er zwar nur ein kleines Gebiet auf der Oberfläche der Erde - wenige Meilen im Umfang, von einer Kette von Bergen umschlossen. Aber gleich unter der urbaren Erdrinde hebt seine Alleinherrschaft an und erstreckt sich achthundertsechzig Meilen in die Tiefe, bis zum Mittelpunkt der Erde. Rübezahl pflegte mit Menschen bald neckischen, bald freundschaftlichen Umgang.
Kurt Regscheks »Erdgeist« ist ein alter Mann, der urmächtig aus der Erde bricht. In Farbgebung und Gesichtsausdruck erinnert er an die Gestalt des »Letzten Königs« (1961), doch trägt er seine eigenen Züge. Regschek nannte ihn einmal ein »Jedermann-Symbol«:
Unserem Künstler jedenfalls saß der Schalk recht oft im Nacken.
In der Heimat der Navajo-Indianer ist das animisti-sche Weltbild noch rein erhalten - von seinem Geist ist dieses Bild getragen. Vorbild ist die bizarre Farbwüste Painted Desert, ein etwa 160 Meilen langer Bogen vielfarbiger Hügel östlich des Grand Cany-ons im US-Bundesstaat Arizona, den die Regscheks auf einer Reise durch den Südwesten der USA 1976 kennen lernten. Das Ölbild entstand nach der Rückkehr nach Wien auf der Basis von Reiseskizzen.
Aus den naturalistisch wiedergegebenen Felsformationen des Canyon de Chelly mit seinen scharfen Schatten (er liegt etwa 200 km östlich des Grand CanyonsJ bricht unverhofft ein Passagierflugzeug hervor, dessen Tragflächen sich in Adler-Schwingen verwandelt haben. Hier, im pittoresken Südwesten der USA, hat offenbar der genius loci doppelt zugeschlagen: in Kurt Regscheks Bild kommt es zu einer phantastischen Vermählung zwischen der für das große Land so wichtigen Flugzeugtechnik und dem ihr kongenialen, dort noch heimischen Raubvogel, dem Weißkopfadler. Farblich strahlt das Bild Optimismus aus - die Vogelperspektive mit dem starken Raumeindruck ist sein besonderer Reiz. Mit unserer heutigen Erfahrung des 9/11 lässt das zwischen Steinmassen hindurchfliegende Passagierflugzeug freilich prophetische Züge erkennen.
Während das Weibliche in vielen Werken Kurt Regscheks auf sehr gefühlvolle Art verhüllt wird, ja manchmal überhaupt nur als Idee vorkommt, tritt die Parallele Frau-Landschaft in diesem Werk unverhüllt und ohne Kompromisse zu Tage. Welcher Mann hat noch nicht die Formen seiner Partnerin mit einer Landschaft verglichen, wenn er zart über ihre Berge und Täler strich? Und wer hat noch nicht an weibliche Formen gedacht, wenn er sanfte Berglandschaften oder steil empor ragende Spitzhügel betrachtete? Bei diesem Bild hat man zur eigenen Verblüffung nicht den Eindruck, dass der in die Landschaft eingebettete Frauenkörper ein Fremdkörper wäre. Im Gegenteil: es mutet ganz natürlich an, dass die Übergangszone zwischen dem dunklen Erdboden mit seinem rauen Gestein und seinen felsigen Klüften einerseits und der hellen Hügellandschaft im Hintergrund andererseits von einem wohlgeformten Frauenleib gebildet wird. Keck emporragende Brüste finden ihre Entsprechung in einem hellen Hügelpaar am Horizont. Geschickt verschwindet die Beinpartie in buschigen Bäumen, während das lange sinnliche Haupthaar noch eins ist mit den Strukturen des Erdbodens. Wie oft bei Kurt Regschek ist der Gesichtsausdruck der Frauengestalt ein wenig nachdenklich, wenn auch die vollen Lippen keinen Zweifel daran lassen, was ihr Körper vermag.
© Bild und Texte Peter Diem und Anton Wladar
- Vom rechten Maß
- Einleitung
- Lebensgeschichte
- Kurt Regschek als Lehrer
- 01 Apokalypse, Krieg und Tod
- 02 Die Architektur und ihre Wurzeln
- 03 Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit
- 04 Animistische Landschaften
- 05 Eros versus Sexus
- 06 Mutanten
- 07 Mythologie
- 08 Nature morte
- 09 Spiritualität
- 10 Landschaften
- 11 Portraits
- 12 Akt
- 13 Kakaniopolis
- Kurt Regschek und die Wiener Schule
- Interview mit Monika Bugs
- Stimmen von Freunden
- Ausstellungen und Ehrungen
- Bibliographie
- Bibliographie Kataloge
- Bibliographie Publikationen
- Bibliographie Quellen
- Index