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Informatik als Schulfach#

von Juraj Hromkovič, Departement Informatik, ETH Zürich

Zusammenfassung. #

Die Geschichte der Einführung der Informatik als Schulfach ist eine wahre Geschichte, die nur das Leben schreiben kann. Sie hat die entsprechenden Höhen und Tiefen und eine grosse Vielfalt, die ihr die Bildungssysteme in unterschiedlichen Ländern verliehen haben. In diesem Artikel wollen wir ein paar Einblicke in den komplexen Verlauf des Einzugs des Faches Informatik in die Schule geben. Die Geschichte ist sehr lehrreich und soll uns helfen, die richtige Zielsetzung für das Schulfach Informatik auszuwählen und den Unterricht erfolgreich zu gestalten. Alles was hier steht, sind natürlich subjektive persönliche Erfahrungen des Autors mit dem Informatikunterricht und den komplexen Prozessen der Einbettung der Informatik ins Bildungssystem, die er einerseits zuerst passiv miterlebt, sowie andererseits bis zu einem gewissem Grad in einigen Ländern mitgeprägt hat.

1. Die goldenen Pionierzeiten#

Meine erste Berührung mit der Schulinformatik kam im September 1973 zu Stande und war sofort prächtig. Zuerst hatte ich in der damaligen Tschechoslowakei keinen Platz auf der Mittelschule erhalten, weil das Kaderprofil meiner Familie für die herrschende Ideologie nicht gut genug war.

Aus dieser Lage hat mich meine ehemalige Klassenlehrerin der Volksschule gerettet, mit deren Unterstützung ich tüchtig an der Mathematikolympiade teilgenommen hatte. „Glücklicherweise“ (für mich) waren die kommunistischen Entscheidungsträger ziemlich korrupt (diese Zeiten lieferten leider einen sehr guten Lehrgang für die Korruption nach der Wende) und so erhielt ich den letzten freien Platz in einer Klasse am Gymnasium Jura Hronca in Bratislava mit einem neuen Fokus – Informatik. Als ich im Alter von 15 Jahren dort ankam, ahnte ich noch nicht einmal, was Informatik ist oder sein könnte. Was mich erwartete, war ein Paradies. Ein begeisterter Informatiklehrer, der noch heute als 77-Jähriger an derselben Schule mitunterrichtet und ein Programm, von dem die meisten Gymnasien in Westeuropa oder den USA noch heute nicht mal zu träumen wagen: Vier Jahre lang durchschnittlich vier Stunden Informatik pro Woche. Basic, Fortran und Cobol als Programmiersprachen, lineare Algebra, numerische Mathematik, Sortieren, Suche und Datenbanken als Themenbereiche, in denen wir alles Zugängliche durchprogrammiert haben.

Wir haben sogar einen Simulator für Turing-Maschinen entwickelt und konnten sie damit in einer speziellen Sprache programmieren. Und das alles mit Lochkarten und einem Tag Wartezeit auf die Resultate der von uns entwickelten Algorithmen. Und trotzdem, bei allen mit ansteckender Begeisterung für die neue Technologie.

Mein erstes Programmierpraktikum machte ich mit 17 Jahren während eines Ferienjobs in einem Betrieb, in dem ich mit Cobol eine kleine Datenbank erstellt habe, von der die dortige Programmiergruppe des Betriebs dem Chef zu erklären versuchte, dass sie nicht realisierbar sei. Dies hatte auch Folgen. Zuerst wurde mir erklärt, dass ich nicht kollegial sei (asozial beim Aufbau des Sozialismus) und nach meinem Weggang aus dem Betrieb sind die Lochkarten meiner Programme zufällig jemandem aus der Hand gefallen und niemand schaffte es mehr, diese in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es ist sicherlich falsch zu denken, dass so etwas nur im damaligen Osten passieren konnte.

Aus dieser Gymnasialklasse musste der Weg an die Komensky-Universität im Jahre 1977 fast unausweichlich in den neuen Studiengang Informatik führen. Mein Jahrgang mit 30 Studienanfängern enthielt acht aus unserer Gymnasialklasse. Die Technologie hatte sich entwickelt, wir wechselten zu Pascal und hatten ein sehr modernes Studienprogramm, das eigentlich von dem Programm der führenden amerikanischen Universitäten übernommen wurde. Man kann sich natürlich fragen, wie so etwas im kommunistischen Ostblock überhaupt möglich war. Der Grund waren die Ideologen in der sowjetischen Regierung in Moskau. Sie haben damals entschieden, dass Informatik die Technologie der Zukunft ist und dass der Osten den Westen gerade in diesem Gebiet schlagen muss. Somit öffneten sich in Osteuropa die Türen aller Schulen für das neue Fach Informatik. Erwähnenswert ist ausserdem, dass man in der Informatik damals kein Gender-Problem hatte. Die Frauen machten die Hälfte der Studierenden aus und ihre Leistungen waren genauso gut.

In den achtziger Jahren fand die Informatik insbesondere als Programmieren den Einzug in die Schulen vieler Länder. Meistens hatte man allerdings kein eigenständiges Fach Informatik wie in Osteuropa, sondern das Programmieren wurde im Rahmen des Mathematikunterrichts vermittelt. Das Interesse für das Informatikstudium an den Universitäten wuchs enorm und Studiengänge für Informatik wurden an Hochschulen zum Standard-Angebot und prägten einige Universitäten sogar essentiell.

2. Der Rückschlag#

Die Abschaffung der Informatik im allgemeinen Bildungssystem in den USA und in Westeuropa Mitte der neunziger Jahre war eine Folge von zwei Fehlentwicklungen, die ihren Ursprung in den USA hatten. Erstens kam die „weiche“ Pädagogik der Wohlstandsgesellschaft, die der jungen Generation ein besseres Leben offerieren sollte. So wollte man die Schülerinnen und Schüler vor zu viel Anstrengung und harter Arbeit schützen und das Risiko von Misserfolgen mindern. Man vergass das Faustische(Johann Wolfgang Goethe) daran. Nur eine anstrengende und als besonders empfundene Dienstleistung für die Gesellschaft kann einem Menschen das Gefühl der Zufriedenheit schenken. Wohin würden die Sportler kommen, wenn sie beim Training nicht schwitzen dürften? Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Gewicht der exakten Wissenschaften in der Schule stark reduziert und dazu gehörte ausser Mathematik und Physik auch die Informatik.

In den USA wurde das Programmieren leider sehr oft auf das Erlernen der Syntax einer Programmiersprache reduziert und so technisch und langweilig unterrichtet, dass es sehr unbeliebt wurde. Dieses Versagen beim Versuch, Programmieren in die Schule zu bringen, hat in den USA Folgen bis heute. Das Fachwort „Programmieren“ ist so negativ emotional aufgeladen, dass man bei dem neuen Versuch, Informatik in die Schule zu bringen, ein neues unbelastetes Wort „Coding“ für diesen Zweck erfunden hat.

Den zweiten Grund zur Abschaffung der Informatik und ihre Reduzierung auf kurzlebige Betriebsanleitungen zur Computernutzung unter dem Titel ICT-Kompetenzen hat ein Teil der IT-Industrie zu verantworten. In der Absicht, mehr eigene Produkte verkaufen zu können und die Kundschaft in jungen Jahren so früh wie möglich an eigene Produkte zu gewöhnen, fing man in der Schule an, langweilige Bedienungsanleitungen zur Nutzung spezieller Softwarepakete zu unterrichten. Damit schoss sich die IT-Industrie das grösste Eigentor in ihrer Geschichte. Der ICT-Unterricht unter dem Namen „Informatik“ wurde zum unbeliebtesten Fach bei Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern. Eine grosse Umfrage in Österreich zeigte, dass nur 2% der Schülerinnen und Schülern es nützlich fanden, und niemand verband das Fach mit Kreativität oder einer intellektuellen Herausforderung. Die Resultate aus anderen Ländern wichen von diesem Urteil nicht weit ab, keine Nachhaltigkeit, kein Spiralcurriculum. Das Image der Informatik wurde zerstört, mit der Folge, dass das Interesse am Studium der Informatik einen Tiefstand erreichte und der IT-Industrie immer mehr qualifizierte Fachkräfte fehlten.

Als ich im Jahre 2004 an die ETH Zürich kam, hatte der Zustand erschreckende Ausmasse angenommen. Somit gründete ich 2005 mit Unterstützung der Schulleitung der ETH das „Ausbildungs- und Beratungszentrum für den Informatikunterricht“ mit dem Ziel, wieder die Informatik statt des Computerführerscheins in die Schule zu bringen. Im ABZ nahm man die Herausforderung an allen Fronten an. Es wurden Unterrichtsmaterialien für alle Altersstufen entwickelt, man führte hunderte Schulprojekte im Umfang von 20 bis 80 Lektionen durch, welche in den normalen Schulunterricht integriert wurden, um zu zeigen, dass man nachhaltige Informatik-Konzepte mit grosser Begeisterung und starker Förderung der Kreativität unterrichten kann. Die Begeisterung der Kinder, ihrer Eltern und der Lehrpersonen zog das Interesse der Medien an. Über 400 mediale Auftritte bis hin zur Neuen Zürcher Zeitung, dem Tagesanzeiger und den Hauptnachrichten im TV waren notwendig, um die Verantwortlichen auf die Fehlentwicklung im Bildungssystem aufmerksam zu machen.

All diese Bemühungen fanden glücklicherweise Parallelen in vielen anderen Ländern. Der Irrweg wurde international erkannt und in immer mehr Ländern wurde der Ruf nach nachhaltigem Informatikunterricht getrennt von ICT-Kompetenzen laut. In Grossbritannien, Frankreich oder Italien hat inzwischen die Informatik beispielsweise eine gleichwertige Stellung wie andere Schulfächer erhalten.

Der deutschsprachige Raum erlebte und erlebt eine besondere Entwicklung. Es entstand die These, dass Medienkompetenzen das Allerwichtigste seien. In den Vordergrund rückten die Reflexionen über die Inhalte webbasierter Auftritte, ethische Fragen, sowie der Umgang mit sozialen Medien. Das wäre noch nicht ein echtes Problem für die Informatik, wenn einige Medienwissenschaftler in ihrer fast vergeblichen Suche nach Jobs im Jahre 2013 nicht angefangen hätten zu behaupten, dass die Informatik nicht zu den MINT-Fächern gehöre, sondern durch Medienwissenschaftler als Teil digitaler Bildung vermittelt werden soll. Die Folgen waren nicht zu unterschätzen. Das Bundesland Baden-Württemberg führte das Fach Medienkunde ein und strich hingegen das Fach Informatik. An den pädagogischen Hochschulen in der Schweiz arbeiten hunderte Medienwissenschaftler, aber kaum diplomierte Informatiker.

3. Aktuelle Entwicklung – Chancen und Gefahren#

Heute ist es mehr oder weniger klar, dass kein Bildungssystem eines Landes das Fach Informatik ignorieren kann. Dennoch können zu viele Jahre vergehen, bis eine nachhaltige Umsetzung der Implementierung gelingt. Solche Verspätungen können die Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Die drei grössten Gefahren in diesem Prozess sind die folgenden:

1. Die Rolle der Angst#

Viele Lehrpersonen haben Angst um ihre Anstellung, wenn grosse Teile des ICT-Unterrichts gestrichen werden und sie tatsächlich Informatik unterrichten müssen, über die sie nicht viel Ahnung haben. Andere Lehrpersonen fürchten, dass die Stundendotation ihrer Fächer reduziert wird, um Informatik einzuführen.

2. Die Rolle der Medienkunde#

Durch den Einfluss der geisteswissenschaftlichen Medienkunde und der Lehrerschaft, die bisher ECDL und Anwendungskompetenzen unterrichtet hat, kann der Einzug von nachhaltigen Informatik-Konzepten in die Bildung verzögert werden. Derzeit erleben wir eine Manifestation dieser Kreise, die versuchen, den Informatikunterricht auf die Faktografie über die neuesten Entwicklungen der digitalen Technologien und die Reflexion über ihre Nutzung und damit verbundenen Gefahren und Ethik zu reduzieren. Weil die meisten Universitäten sich dieses Problems noch nicht bewusst sind und ihr Einfluss an den pädagogischen Hochschulen zu gering ist, ist eine sichere Änderung dieses Kurses noch nicht garantiert. Die Hoffnung liegt in der Tatsache, dass in der ganzen Gesellschaft der Stellenwert der Informatik immer mehr Akzeptanz findet und der Druck zur Einführung eines nachhaltigen Informatikunterrichts somit wachsen wird.

3. Die passenden Entscheider#

Wenn die Entscheidung fällt, Informatik zu unterrichten, kommen zu viele Experten, die meinen, dass das, was sie gerade tun, das sei, was unterrichtet werden muss. Ein guter Zugang für die jeweiligen Altersgruppen und Nachhaltigkeit werden nicht garantiert. Die Informatik wird wie bisher in Bildungsfragen nicht mit einheitlicher Stimme sprechen. Informatiker müssen noch lernen, nicht von der Begeisterung der neuesten Errungenschaften in die Schule zu springen. Man sollte von den Physikern lernen, die die Genesis des physikalischen Denkens Schritt für Schritt zu vermitteln versuchen. Die Wurzel der Informatik ist so alt wie die Wurzel der menschlichen Kultur und sehr stark mit der Entwicklung der ersten Schriften (Datendarstellungen) und der ersten entwickelten systematischen Vorgehensweisen (Algorithmen) verbunden. Was die Grundwerte sind und was die Zielsetzungen für die Informatik in der Schule sein sollten, haben wir einer breiteren Leserschaft erklärt [1].

Ein erfolgreicher Informatikunterricht muss auf folgendem Konzept aufbauen: “Statt fertige Produkte der Wissenschaft und der Technik mit ihren Anwendungen zu unterrichten, muss man die Prozesse des Experimentierens, des Entdeckens, der Hypothesen-Formulierungen und ihrer Überprüfungen in den Vordergrund stellen. Man muss kreative Erfinder und konstruktive Hersteller statt Konsumenten der IT-Industrie ausbilden und erziehen.“

Deswegen braucht der Prozess der Wiedereinführung der Informatik in die Schule die Beteiligung der Persönlichkeiten aus der Wissenschaft, die den Kontext der Informatik selbst sowie ihre Rolle innerhalb der ganzen Wissenschaft sehr gut verstehen und aus der Genesis ihres Faches die Hauptbeiträge der Informatik auf der konzeptionellen Ebene offenbaren können. Die Universitäten sind heute gefragter denn je, sich trotz grosser Belastung wegen steigender Nachfrage in der Forschung, Politik und Wissenschaft an diesem Prozess zu beteiligen.

Weitere Beiträge zu den Themen Informatik, Universität und Ausbildung.

[1]] Juraj Hromkovič und Regula Lacher. How to convince teachers to teach computer science even if informatics was never a part of their own studies. Bulletin of the EATCS 123, 2017.


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