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Untersuchung des Tatsächlichen#

Vor 100 Jahren starb der international renommierte Physiker und Philosoph Ernst Mach. Er sah das Ziel der Wissenschaft in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 13./14. Februar 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Franz M. Wuketits


Ernst Mach im Jahr 1902.
Ernst Mach im Jahr 1902.
Aus: Wikicommons, unter PD

Die späteren Jahre des 19. und die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts waren eine geistig bewegte Zeit. Mit Darwins Evolutionstheorie trat eine düstere Naturauffassung an die Stelle jeder Natur- romantik; Einsteins Relativitätstheorie warf die herkömmlichen Begriffe von Raum und Zeit über den Haufen; und Freuds "Seelenanalyse" gab dem Menschen zu verstehen, dass er nicht Herr im eigenen Hause sei. Die neuen Theorien verursachten natürlich auch viele - teils hitzig geführte - Kontroversen und führten zu einer intellektuellen Polarisierung weit hinaus über die betroffenen Wissenschaftsdisziplinen. Vor allem Darwins Natur- und Freuds Menschenbild beflügelten nicht zuletzt auch einen ideologisch motivierten Ideenstreit. Bei all dem konnten auch prinzipielle Reflexionen über das Wesen, die Aufgaben und Ziele der Wissenschaft nicht ausbleiben.

Da jene Jahre auch Ideen über durchgreifende Sozialreformen in Schwung brachten, waren die Wissenschaften, zumal die Naturwissenschaften, mit grundlegende Fragen konfrontiert: Was konnten sie im Dienste einer Verbesserung der menschlichen Lebens- situation leisten? Welche "emanzipatorische" Funktion, im Sinne der Aufklärung, sollte ihnen zugeschrieben werden?

Auf theoretischer Ebene zeigten sich deutliche Bestrebungen, althergebrachte, von Theologie und Metaphysik durchtränkte Weltbilder durch eine (natur-)wissenschaftliche, metaphysikfreie Weltauffassung zu ersetzen, die sich aber auch auf die menschliche "Lebenspraxis" positiv auswirken sollte - ein "Projekt", das noch heute nicht abgeschlossen ist, weil sich ihm Obskuranten stets aufs Neue entgegenstellen.

Wissen und Arbeit#

Maßgeblichen Anteil an der Festigung einer wissenschaftlichen Weltauffassung und einer neuen Standortbestimmung der Wissenschaften überhaupt hatte der Physiker und Philosoph Ernst Mach.

Geboren am 18. Februar 1838 in Chirlitz (heute Chrlice) bei Brünn, übersiedelte der zweijährige Ernst Waldfried Josef Wenzel Mach mit seiner Familie ins Marchfeld in Niederösterreich, wo sein Vater, ein Lehrer und Erzieher, eine Landwirtschaft erwarb. Ernst war ein schwächlicher Junge, der bis zu seinem neunten Lebensjahr von seinem Vater Privatunterricht erhielt, bevor er - was ihm später etwas ironisch erscheinen sollte - 1847 ins Gymnasium des Benediktinerstiftes in Seiten-stetten eintrat. Da der Unterricht nur am Vormittag stattfand, nutzte er die Nachmittagsstunden für Feldarbeiten, was seine Achtung vor manueller Arbeit prägte.

Als Fünfzehnjähriger wechselte Mach ins öffentliche Piaristengymnasium in Kremsier (Mähren), wo er zwei Jahre später die Reifeprüfung ablegte, um anschließend an der Universität Wien Physik und Mathematik zu studieren. Da ihm die Lehre in diesen Fächern mangelhaft erschien, bildete er sich autodidaktisch weiter. Nach fünf Jahren promovierte er 1860 mit einer Dissertation "Über elektrische Entladung und Induktion".

Aufgrund seiner schlechten wirtschaftlichen Lage musste er sich mit Privatstunden durchbringen, konnte sich aber schon 1861 in Physik habilitieren. Als (unbesoldeter) Dozent hielt er Privatvorträge und dehnte seine Interessen von der Physik auf die Physiologie aus, was für seine späteren erkenntnistheoretischen Arbeiten nicht unbedeutend war. Gleichzeitig war Mach aber auch an der "Sozialen Frage" interessiert und unterstützte die Arbeiterbewegung.

Die Berufung als ordentlicher Professor für Mathematik an die Universität Graz (1864) veränderte Machs berufliche, aber auch persönliche Situation. Er heiratete die um sieben Jahre jüngere Ludovica Marussig, eine Vollwaise, mit der er fünf Kinder hatte. Sein Erstgeborener, Ludwig Mach, war später, als Mediziner und Physiker, sein langjähriger Mitarbeiter.

Graz blieb für Mach aber nur eine Zwischenstation. Mit seiner Berufung zum Professor für Experimentalphysik an die Universität Prag (1867), wo er je ein Jahr auch die Funktion des Dekans (der Philosophischen Fakultät) und des Rektors übernahm, gewann er an internationaler Reputation. In der Prager Zeit erschienen verschiedene seiner physiologischen Arbeiten sowie Werke zur Wärmelehre und Mechanik.

Auch das Erscheinen seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks, "Beiträge zur Analyse der Empfindungen", fällt in diese Zeit. Über ein Vierteljahrhundert blieb Mach in der "Goldenen Stadt", bis er schließlich 1895 nach Wien zurückkehrte, wo eigens für ihn ein Lehrstuhl für "Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften" geschaffen worden war (in der Universitätsgeschichte überhaupt das erste Ordinariat für die Fächer Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte).

Allerdings musste Mach, nach einem Schlaganfall rechtsseitig gelähmt, bereits nach drei Jahren seine Lehrtätigkeit in Wien aufgeben. Seine wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeit setzte er jedoch fort (Letztere dank einer seiner Behinderung gerechten Schreibmaschine). 1913 übersiedelte er zu seinem ältesten Sohn Ludwig nach Vaterstetten bei München, wo er am 19. Februar 1916 starb.

Mach postulierte für die Wissenschaft eine "Denkökonomie": Die Wissenschaft muss mit ihrer "Denkenergie" haushalten, sich also auf die Untersuchung des Tatsächlichen, Erfahrbaren beschränken und alle theologisch-metaphysischen Spekulationen ausschließen. Nach Mach sind nur Empfindungen real, also Farben, Töne, Gerüche und so weiter, und auch unser jeweiliges Ich ist sozusagen nur eine Empfindungsgruppe. Seine erkenntnistheoretische beziehungsweise naturphilosophische Haltung ist eine monistische: Physische und psychische Phänomene, Leib und Seele, Körper und Geist sind nicht voneinander wesensverschieden, und auch zwischen dem Ich und dem Rest der Welt besteht keine Wesensverschiedenheit. Die Unterschiede ergeben sich nur aus den verschiedenen Gesichtspunkten in der Deutung des "Empfindungsmaterials", dessen Beschreibung aber möglichst exakt zu erfolgen hat.

Auf Darwins Spuren#

Mach ist auch als ein Vorläufer der modernen evolutionären Erkenntnistheorie anzusehen, einer Theorie der evolutionären Grundlagen des (menschlichen) Erkennens und Denkens. Darwins Werk "Die Abstammung des Menschen" hatte unsere Gattung nicht nur hinsichtlich ihrer anatomischen und physiologischen Merkmale als Resultat der Evolution durch natürliche Auslese oder Selektion ausgewiesen, sondern auch deren psychische, mentale, soziale und moralische Fähigkeiten in den Tiefen ihrer Stammesgeschichte fest verankert. Es kommt daher nicht überraschend, dass die Evolutionstheorie - wenngleich gegen manchen Widerstand - auch außerhalb des engeren Bereichs Biologie (in den Humanwissenschaften) bald eine nachhaltige Wirkung entfalten sollte.

Mach sah in der Wissenschaft selbst ein Resultat der Evolution und betonte gerade unter diesem Aspekt ihre eminente Bedeutung. In seinem 1905 publizierten erkenntnistheoretischen Werk "Erkenntnis und Irrtum" (mit dem beziehungsvollen Untertitel "Skizzen zur Psychologie der Forschung") schreibt er Folgendes: "Die Wissenschaft ist anscheinend als der überflüssigste Seitenzweig aus der biologischen und kulturellen Entwicklung hervorgewachsen. Wir können aber heute nicht mehr zweifeln, dass dieselbe sich zum biologisch und kulturell förderlichsten Faktor entwickelt hat. Sie hat die Aufgabe übernommen, an die Stelle der tastenden, unbewussten Anpassung die raschere, klar bewusste, methodische zu setzen."

So versteht man, dass der Physiker und Philosoph in der menschlichen Daseinsbewältigung, in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse die wichtigste Aufgabe und das Ziel der Wissenschaft gesehen hat.

Insbesondere den Naturwissenschaften maß er große Bedeutung im Sinne der Aufklärung bei und setze sich dementsprechend auch für die Volksbildung ein. Bereits in Graz hielt er populärwissenschaftliche Vorträge für ein breites Publikum. Und es war so gesehen nur konsequent, dass er die sozialreformerischen Bemühungen seiner Zeit tatkräftig unterstützte. Charakteristisch für Machs Haltung in der "Sozialen Frage" ist seine testamentarische Verfügung im Hinblick auf seine Beisetzung. Der Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler zitiert: "Mein Begräbnis soll möglichst wenig kosten, dafür wünsche ich, daß der Volksbildungsverein in Wien und die ‚Arbeiter-Zeitung‘ je 50 fl erhalten."

Liberale Gesinnung#

Mach, den der österreichische Philosoph Heinrich Gomperz einmal als einen "Buddha der Wissenschaft" bezeichnete, fand zu seinen Lebzeiten weithin Beachtung, nicht nur in der Philosophie und in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Kunstszene, vor allem in der Literatur und ebenso in der Politik.

Der 2014 verstorbene Grazer Philosoph Rudolf Haller bemerkte dazu: "In Wien . . . fand er . . . eine wohlmeinende und aufgeschlossene Jugend, die künstlerische Avantgarde gleich wie die philosophisch interessierten Liberalen und Sozialisten scharten sich um ihn." Bezeichnend ist, dass Robert Musil seine Dissertation über Machs Lehre verfasste. Und als nicht minder bezeichnend ist der Umstand zu werten, dass Lenin geraume Zeit in westlichen Bibliotheken verbrachte, um eine Polemik gegen Machs Empirismus und gegen dessen russische Anhänger zu verfassen.

Mach war ein universaler Geist, ein Naturwissenschafter und Philosoph mit humanistischer, liberaler Gesinnung. Seine Nachwelt hat ihn nicht vergessen. Im Wiener Rathauspark steht sein Denkmal und anlässlich seines 150. Geburtstags erschien 1988 ein von Rudolf Haller und Friedrich Stadler herausgegebener, stattlicher Sammelband über Machs Leben, sein Werk und seine Wirkung. Die heute wieder dringend gewordene Besinnung auf die Rolle der (Natur-)Wissenschaften in ihrer aufklärerischen Funktion sollte sich aber noch stärker auf seine Gedankenwelt fokussieren.

Franz M.Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Autor zahlreicher Bücher; zuletzt erschien: "Mord. Krieg. Terror. Sind wir zur Gewalt verurteilt?", Hirzel Verlag, 2015.

Wiener Zeitung, Sa./So., 13./14. Februar 2016