Seite - 22 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Treffen zwischen Brandt und Chruschtschow zu arrangieren. Adenauer hatte zu
diesem Zeitpunkt die Neutralisierung der DDR nach österreichischem Muster er-
wogen und stellte Brandt frei, ein derartiges Treffen zu realisieren. Nachdem sich
der US-Gesandte in West-Berlin, Bernhard Gufler, gegen ein solches Treffen aus-
gesprochen hatte, entschied sich Brandt dagegen. Kreisky war tief getroffen und
beklagte sich bei Brandt über die ihm zuteil gewordene Bloßstellung, die unter
Umständen auch seine außenpolitische Laufbahn, bereits vor deren eigentlichen
Beginn, hätte beenden können.69 Doch blieb Kreisky als Vermittler weiter gefragt.
Im Zuge des Besuchs von Chruschtschow in Österreich vom 30. Juni bis 8. Juli
1960 wurde Kreisky erneut zumindest als „Briefträger“ zu gewinnen versucht.
Außenminister Gromyko übergab Kreisky ein „Berlin-Memorandum“, das die
sowjetischen Positionen bekräftigte und ersuchte um Weiterleitung an Brandt.
Kreisky kam dieser Bitte nach, informierte jedoch auch die Bundesrepublik und
die USA und lehnte jede Rolle als Vermittler ab. Dies lag an seinen schlechten Er-
fahrungen aus dem Jahr 1959. Dennoch fungierte er als Informationskanal. Seine
Geheimkontakte kamen erneut in die Presse, was Kreisky sehr verärgerte. Die
USA hatten keine Mittlerrolle Kreiskys gewünscht, jedoch wurde es als nützlich
angesehen, wenn der Außenminister „dem sowjetischen Botschafter die ‚Fes-
tigkeit des Westens‘ in der Berlin-Frage näher bringen könnte“.70 Im Rahmen
der UNO-Vollversammlung im September 1960 wurde nun auch von Seiten der
Bundesrepublik versucht, Kreisky als Mittler zu gewinnen. Kreisky wollte aber
nur auf Basis schriftlicher Unterlagen handeln. Daraufhin wurde das Thema
nicht mehr angesprochen beziehungsweise von Seiten der Bundesrepublik nicht
mehr weiter verfolgt. Gespräche auf Basis des von Kreisky übermittelten Memo-
randums fanden nicht mehr statt, v. a. aufgrund der weltpolitischen Gegebenhei-
ten der Zeit.71 Auch 1961, nach dem Vienna Summit, benutzte Chruschtschow
den „Kreisky-Kanal“. Der österreichische Außenminister berichtete zwar dem
amerikanischen Botschafter, nicht mehr jedoch Brandt und Adenauer. Bis 1963,
also auch über den Mauerbau hinaus, sollte Kreisky immer wieder als Vermittler
ins Spiel gebracht werden.72
69 Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besat-
zung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, Bd. 1, Wien 2005, S. 198–205; Kofler, Kennedy,
S. 59–60; Elisabeth Röhrlich, Kreiskys Außenpolitik. Zwischen österreichischer Identität und
internationalem Programm (Zeitgeschichte im Kontext 2), Göttingen 2009, S. 184–194; Peter
Ruggen
thaler / Harald Knoll, Nikita Chruščev und Österreich, Die österreichische Neutralität
als Instrument der sowjetischen Außenpolitik, in: Stefan Karner / et al. (Hg.), Der Wiener Gip-
fel 1961. Kennedy
– Chruschtschow, Innsbruck / Wien / Bozen 2011, S. 759–807, hier S. 775–798.
70 Kofler, Kennedy, S. 60–61.
71 Erhard Sammer: Die Berlin-Krise von 1958–1961. Ihre Wahrnehmung durch die österrei-
chische Diplomatie, Diplomarbeit Graz 2000, S. 151–152.
72 1962–1963 fungierte Kreisky zunehmend als politischer Informant über die Sowjetunion und
den Ostblock für die USA. 1963 war der österreichische Generalkonsul Peter Müller an der
Übermittlung eines erneuten Gesprächsangebots Chruschtschows an Brandt beteiligt. Dies-
mal sagte Brandt wegen der ablehnenden Haltung seines Koalitionspartners in West-Berlin, der
Christlich Demokratischen Union (CDU), ab. Siehe hierzu: Kofler, Kennedy, S. 62, 64–65, 126.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99