Seite - 27 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Verbal wurde von der Sowjetunion zwar die Anerkennung der DDR gefordert,
aber kaum Druck auf Österreich ausgeübt. Österreichische Diplomaten erkann-
ten dieses Vorgehen Moskaus früh. Nach einem Gespräch mit einem ostdeut-
schen und einem sowjetischen Diplomaten in Moskau berichtete Botschaftsrat
Franz Karasek Anfang 1962 dahingehend an Kreisky. Die Begegnung verfolgte
ausschließlich den Zweck, darzulegen, dass Österreich durch eine Anerkennung
der DDR der Welt seine neutrale Position beweisen würde. Karasek parierte die
Argumentation durch die Auflistung der einer Anerkennung im Wege stehen-
den realpolitischen Gegebenheiten. In seiner Interpretation hatte der sowjetische
Vertreter auch keine anderen Antworten von ihm erwartet. Zudem hatte er den
Eindruck, dass dieses Gespräch weniger der Beeinflussung der österreichischen
Politik dienen sollte, „sondern um dem ostdeutschen Alliierten zu demonstrieren,
daß die Sowjetunion nicht nur intern hinter der DDR steht, sondern auch nach
außen hin jederzeit bereit ist, für die Anerkennung der Existenz des ostdeutschen
Regimes einzutreten“. Karasek schloss aber auch nicht aus, dass die Initiative zu
diesem Gespräch überhaupt vom DDR-Diplomaten in Moskau ausging.84
An der sowjetischen Vorgehensweise sollte sich auch im Verlauf der 1960er-
Jahre nur wenig ändern. Nachdem der neue österreichische Außenminister Kurt
Waldheim im März 1968 die Sowjetunion besucht hatte, erwähnte er die DDR in
seinem Bericht an den Ministerrat mit keinem Wort.85 Das sowjetische Außen-
ministerium informierte Ost-Berlin, „daß die Gespräche mit Waldheim keine
neuen Momente in der Haltung Österreichs zur DDR gebracht haben. Waldheim
war in dieser Frage äußerst zurückhaltend. Sobald von sowjetischer Seite die Rede
auf die DDR kam, versuchte er immer der Frage auszuweichen, um keine Position
beziehen zu müssen.“86 Im Mai 1968 begleitete Waldheim Bundes präsident Franz
Jonas auf dessen Moskau-Besuch. Diesmal berichtete der Außenminister dem
Ministerrat hinsichtlich der Frage der Anerkennung der DDR wie folgt: „Erst-
mals wurden wir auch [vom sowjetischen Staatsoberhaupt Nikolaj W.] Podgorny
bedrängt, die DDR anzuerkennen oder zumindest die Beziehungen enger zu ge-
stalten. Der Bundespräsident hat sich rezeptiv verhalten. Diese Frage, die beim
Begrüßungsgespräch angeschnitten wurde, wurde jedoch danach nicht mehr er-
wähnt.“87 Das sowjetische Außenministerium informierte die DDR erneut nüch-
84 Botschaftsrat Karasek an Bundesminister (BM) Kreisky, Moskau, 11. Januar
1962, ÖStA, AdR,
BMAA, Sektion II-Pol (II-Pol) 1962, Deutschland-Ost 2, GZ. 61.377-Pol/62, Zl. 2-Pol/61 [sic!,
62], Karton 762.
85 Mündlicher Vortrag an den Ministerrat von BM Waldheim über seinen Besuch in der So-
wjetunion, ÖStA, AdR, BKA, MRP 2. Republik Klaus II Nr. 77/Beilage B vom 26. März 1968,
Karton 268.
86 Information über den Besuch des österreichischen Außenministers Waldheim in der Sowjet-
union, gezeichnet Gesandter Rossmeisl, Moskau, 8. April 1968, PA / AA, MfAA, C 1491/74,
Bl. 98–106.
87 Verhandlungsniederschrift Nr. 85 über die Sitzung des Ministerrats am 28. Mai 1968, ÖStA,
AdR, BKA, MRP 2. Republik Klaus II Nr. 85/ATO, Karton 271.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99