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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
DDR diplomatische Beziehungen aufnehmen würde“. Hinsichtlich deren weiterer
Entwicklung besaß man eine realistische Einschätzung: „Wie sich das zukünftige
Verhältnis zwischen beiden Ländern gestalten wird, hängt indessen weniger von
diesem formalen Akt [der Anerkennung] ab. Als wichtiger dürften sich die Ver-
handlungen erweisen, die man in nächster Zeit über wirtschaftliche und konsula-
rische Fragen, Verkehrsbeziehungen und vermögensrechtliche Angelegenheiten
führen wird.“ Schwierigkeiten erwartete man zutreffenderweise insbesondere im
Bereich der Vermögens- und Staatsbürgerschaftsfragen.101
Die DDR wurde nun jedenfalls ein fester Bestandteil der politischen Land-
karte Europas und kaum jemand erwartete eine „Wiedervereinigung“ der bei-
den deutschen Staaten. Insbesondere durch die KSZE-Schlussakte vom 1. August
1975 schien das geteilte Europa zementiert – dies war allerdings ein Trugschluss
wie sich nur 15 Jahre später zeigen sollte, nicht zuletzt weil das realpolitische
Streben der Sowjetunion nach Anerkennung des Status quo in Europa durch den
Helsinki-Prozess eine größere Dimension bekam, die wiederum auf die poli-
tischen Verhältnisse im Osten auf lange Sicht destabilisierend wirken sollte.102
Der Historiker Vladislav Zubok hat es auf den Punkt gebracht: „In 1975, the
Kremlin once again celebrated geopolitical victory without anticipating its dire
consequences.“103
In Europa aber auch in der Bundesrepublik hielt kaum jemand eine deut-
sche „Wiedervereinigung“ in näherer Zukunft für möglich. Da die DDR dem
sozialistischen Lager angehörte, war es für Österreich folgerichtig, diese trotz
der Besonderheiten der deutschen Zweistaatlichkeit in sein größeres außenpoli-
tische Konzept der „Ostpolitik“, die offiziell als „Nachbarschaftspolitik“ tituliert
wurde, einzubeziehen.104 Nach dem Abschluss der Verhandlungen über die Auf-
nahme diplomatischer Beziehungen zwischen Österreich und der DDR führte
Außenminister Rudolf Kirchschläger am 6. Dezember 1972 in einem Vortrag vor
der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik die Beweggründe für diesen
Schritt aus: Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags sei „jener markante
und politisch relevante Zeitpunkt erreicht“, zu dem „durch eine österreichische
Anerkennung nicht mehr in die Verhandlungen über die Regelung des Verhält-
nisses zwischen den beiden deutschen Staaten eingegriffen wird, und […] auch die
101 Politischer Jahresbericht der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Wien 1972,
PA / AA, Zwischenarchiv, Bd. 109.208.
102 Oliver Bange / Gottfried Niedhart (Hg.), Helsinki 1975 and the Transformation of Europe,
New York 2008, siehe insbesondere die Einleitung S. 1–21; Wilfried Loth, Der KSZE-Prozess
1975–1990: eine Bilanz, in: Matthias Peter / Hermann Wentker (Hg.), Die KSZE im Ost-West-
Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975–1990 (Schriften-
reihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer), München 2012, S. 323–331.
103 Vladislav M.
Zubok, A Failed Empire: The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gor-
bachev, Chapel Hill 2007, S. 237–238.
104 Maximilian Graf, Österreichs „Ostpolitik“ im Kalten Krieg. Eine doppeldeutsche Sicht, in:
idem / Agnes Meisinger (Hg.), Österreich im Kalten Krieg. Neue Forschungen im internatio-
nalen Kontext, Göttingen 2016, S. 145–173.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99