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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
ausweitete.167 Diese erfasste nicht nur Ungarn, neben der Budapester Botschaft
waren auch jene in Warschau und Prag von nicht heimkehrwilligen DDR-Bürgern
besetzt, deren Ausreise es in mühsamen und langwierigen Verhandlungen zu er-
wirken galt.168
Deutlich war für Österreich bei aller Abstimmung zwischen Ballhausplatz und
Auswärtigem Amt, wie viel für die Bundesrepublik auf dem Spiel zu stehen schien,
zumal die von der Ausreisewelle ausgehende Dynamik noch nicht voll erfasst
werden konnte.169 Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin war geschlossen und das
Erreichen einer Lösung mit Warschau und Prag gestaltete sich für Bonn schwie-
rig. Einfacher war es mit Budapest, obwohl sich auch die ungarische Regierung
auf den Standpunkt gestellt hatte, dass die Lösung der Frage der DDR-Flüchtlinge
Aufgabe der beiden deutschen Staaten sei. Die Intransigenz, mit der die DDR-Füh-
rung der Lösung des Problems entgegentrat und ihrerseits auf die Rückführung
der Ausreisewilligen in den SED-Staat beharrte, führte dazu, dass sich die refor-
mierte ungarische Führung dazu entschloss, deren Ausreise nach Österreich zu
ermöglichen. Nach dem Abbau des Eisernen Vorhangs und dem Wirksamwerden
des ungarischen Beitritts zur Genfer Flüchtlingskonvention, der insbesondere
wegen der seit 1988 zunehmenden Zahl ungarischer Flüchtlinge aus Rumänien
erfolgt war, schien nur eine derartige Lösung dem neuerworbenen ungarischen
Prestige gerecht zu werden.170
Der seit mehr als zwei Jahrzehnten mit vielen Fort- und Rückschritten kon-
tinuierliche und seit 1988 rasant voranschreitende Reformprozess hatte nicht nur
das österreichisch-ungarische Musterbeispiel der europäischen Entspannung im
Kalten Krieg ermöglicht, auch die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik
und Ungarn hatten sich insbesondere seit den 1970er-Jahren konsequent ver-
bessert. Im ungarischen Außenhandel mit dem Westen stand Bonn schon lange
an erster Stelle. Vor dem Hintergrund der massiven ungarischen Wirtschafts-
167 Maximilian Graf, Das Paneuropäische Picknick im Kontext. Wie Österreich zum Tor in
die Freiheit werden konnte und welche Folgen dies hatte, in: Stefan Karner / Philipp Lesiak
(Hg.), Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das paneuropäische Picknick 1989 (erscheint
Graz / Wien 2018).
168 Siehe dazu zuletzt: Katarzyna Stokłosa, „Die letzte Fluchtwelle aus der DDR im Jahr 1989.
Aus den Berichten der westdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau,“ in: Zeit-
schrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015) 1, S. 40–80.
169 Siehe Dok. 50.
170 Siehe dazu die Beiträge von György Gyarmati, Das Vorspiel für das Endspiel. Die Staats-
sicherheit Ungarns 1989; und Imre Tóth, Die Auswirkungen der ostdeutschen Flüchtlings-
frage auf die „Dreiecksbeziehung“ Berlin – Bonn – Budapest in: György Gyarmati / Krisztina
Slachta (Hg.), Das Vorspiel für die Grenzöffnung. Das Paneuropäische Picknick in Sopron
am 19. August 1989, Sopron / Budapest 2014. Zusammenfassend: Gehler, Bonn – Budapest –
Wien, S. 143–145; Andreas Schmidt-Schweizer, Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für
die DDR-Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlussfolgerungen, in:
Südosteuropa Mitteilungen 37 (1997) 1, S. 33–53; idem, Motive im Vorfeld der Demontage
des „Eisernen Vorhangs“ 1987–1989, in: Peter Haslinger (Hg.), Grenze im Kopf, Frankfurt am
Main / Berlin / Bern 1999, S. 127–139.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99