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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
lings vermerkt, damit war die Einreise genehmigt. Das Einlegeblatt wurde an der
Grenze zur Bundesrepublik wieder herausgenommen. Dem Visumsabkommen
mit der DDR war damit Genüge getan.174
Am 11. September 1989 öffnete Ungarn schließlich die Grenze und Österreich
unterstützte die Aus- und Weiterreise der DDR-Bürger in die Bundesrepublik.
Die Welle hatte sich nun Bahn gebrochen. Im Angesicht der Freude schwang aber
auch Sorge vor Flüchtlingsströmen aus weiteren Ländern mit.175 Genscher dankte
Österreich und zeigte sich hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung in der DDR
vorsichtig.176 Die Durchreise in den Folgetagen wurde maßgeblich vom öster-
reichischen Roten Kreuz betreut und verlief reibungslos. Nach dem ersten gro-
ßen Ansturm reduzierte sich die Zahl der Einreisenden rasch. Insgesamt dürften
ca. 50.000 DDR-Deutsche über Österreich in die Bundesrepublik ausgereist sein.
Rückwirkungen auf die Beziehungen zur DDR erwartete man eine Woche nach
der Grenzöffnung keine.177
An dieser Stelle erscheint es geboten, einen Blick auf die ostdeutsche Perzeption
der Vorgeschichte und der Entwicklungen des Jahres 1989 zu werfen. Bereits An-
fang der 1970er-Jahre hatte man in Ost-Berlin sorgenvoll auf die Situation an der
österreichisch-ungarischen Grenze geblickt. Im Zuge der Verhandlungen über die
Regelung des deutsch-deutschen Verhältnisses 1972 befürchtete man, die Zusam-
menarbeit an diesem Abschnitt des Eisernen Vorhangs als Beispiel für die Grenz-
situation zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorgehalten zu bekommen.
Der 1979 zwischen Österreich und Ungarn in Kraft getretene visafreie Reisever-
kehr wurde durch die Stasi argwöhnisch verfolgt. Während Ungarn die DDR über
die gute Entwicklung informierte und eine weitere Forcierung des Reiseverkehrs
anstrebte, blieb man in Ost-Berlin skeptisch. Bezeichnenderweise hatte man in
Budapest freimütig bekannt: „Vielfach machen uns Staatsbürger einiger sozialis-
tischer Länder mehr Schwierigkeiten als die Österreicher.“178
174 Oplatka, Der erste Riß in der Mauer, S. 195; Gehler, Bonn – Budapest – Wien, S. 147–149;
Helene Thiesen, „Einreisesichtvermerk“ – Hilfe für DDR-Flüchtlinge, in: Stiftung Haus der
Geschichte der Bundes republik Deutschland (Hg.), Verfreundete Nachbarn. Deutschland –
Österreich (Ausstellungskatalog), Bonn / Bielefeld 2005, S. 220–221.
175 Siehe Dok. 53. Siehe zu dieser Problematik weiterführend: Maximilian Graf / Sarah Knoll,
In Transit or Asylum Seekers? Austria and the Cold War Refugees from the Communist
Bloc, in: Günter Bischof / Dirk Rupnow (Hg.), Migration in Austria (Contemporary Aus-
trian Studies 26), Innsbruck / New Orleans 2017, S. 91–111; Maximilian Graf / Sarah Knoll, Das
Ende eines Mythos? Österreich und die Kommunismusflüchtlinge, in: Börries Kuzmany / Rita
Garstenauer (Hg.), Aufnahmeland Österreich. Über den Umgang mit Massenflucht seit dem
18. Jahrhundert, Wien 2017, S. 206–229.
176 Siehe Dok. 54.
177 Siehe Dok. 56. Im Dokument werden nur die registrierten Durchreisezahlen der ersten Wo-
che nach der Grenzöffnung angegeben. Für die gemeinhin angenommene Zahl von insgesamt
bis zu 50.000 siehe stellvertretend für viele: Oplatka, Der erste Riß in der Mauer, S. 231.
178 Ausführlich dazu: Maximilian Graf, Die Welt blickt auf das Burgenland. 1989 – die Grenze
wird zum Abbild der Veränderung, in: Maximilian Graf / Alexander Lass / Karlo Ruzicic-Kess-
ler (Hg.), Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien
2012, S. 135–179, hier S. 143–144, für das wörtliche Zitat S. 144.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99