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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Die 1989 offenkundig werdende beginnende politische Transformation Ungarns
und den Abbau des Eisernen Vorhangs zu Österreich sah die SED als Beweis da-
für, dass Ungarn für die „Sache des Sozialismus“ verloren sei. Als Erich Honecker
in der Sitzung des SED-Politbüros vom 15. Juni 1989 „die Befürchtung“ äußerte,
„daß die Entwicklung in Ungarn nicht mehr aufzuhalten“ sei und „Ungarn weiter
in das bürgerliche Lager abgleiten“ werde,179 war dies nur eine Etappe einer zu-
nächst schleichenden, sich aber ständig beschleunigenden Entwicklung.180 Das
bevorstehende Szenario der Grenzöffnung blieb der DDR-Staatsführung eben-
falls nicht verborgen. Frank und frei hatten die Ungarn den in Agonie gefalle-
nen SED-Vertretern erklärt, dass die zigtausenden DDR-Flüchtlinge in Ungarn
eine unhaltbare Situation darstellten, diese aber keinesfalls in die DDR zurück-
geschickt würden und man daher die Grenze öffnen werde. Dies bedeutete nichts
anderes, als dass Ungarn „alle DDR-Bürger nach Österreich ausreisen lassen
würde, die durch ein Einreisevisum auf ihrem Reisedokument nachweisen kön-
nen, daß sie in Österreich aufgenommen werden“.181 Zudem hatte der ungarische
Außenminister Gyula Horn in einem Gespräch mit DDR-Außenminister Oskar
Fischer darauf hingewiesen, dass Ungarn „auch nicht zum früheren Grenzregime
gegenüber Österreich zurückkehren könne“, da es die „große Bedeutung der Be-
ziehungen zu Österreich“ berücksichtigen müsse.182
Fünf vor Zwölf dachte das SED-Politbüro noch über ein direktes Herantreten
an Österreich nach.183 Eine entsprechende Intervention fand aber nicht mehr
179 Sitzung des Politbüros des ZK der SED, 15. Juni 1989, Aufzeichnungen von Egon Krenz,
SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.039/74, Bl. 24.
180 Die Beziehungen zwischen der DDR und Ungarn sind bisher kaum Gegenstand der wissen-
schaftlichen Aufarbeitung geworden. Vgl. zu diesem Faktum: Hermann Wentker, Außen-
politik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007,
S. 528–529. Die Akten der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED las-
sen eine schleichende „Entfremdung“ seit den 1970er-Jahren erkennen: SAPMO-BArch, DY
30/12636; SAPMO-BArch, DY 30/12637; SAPMO-BArch, DY 30/12626.
181 Vermerk über das Gespräch des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED, Ge-
nossen Günter Mittag, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen
Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in: Arbeits-
protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (= Protokoll
Nr. 35/89), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/3238, Bl. 30–34. Zum SED-internen Umgang mit
dem Abbau des Eisernen Vorhangs durch Ungarn Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer.
Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Wiesbaden 1996, S. 91–109, hier ins-
besondere S. 92–98; Gereon Schuch, „Verleumdung, Beleidigung und grobe Einmischung“.
Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im Herbst 1989 im Spiegel der SED-
Akten, in: Deutschland Archiv 32 (1999) 2, S. 242–253, hier S. 242–243.
182 Vermerk über das Gespräch des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Genossen Oskar
Fischer, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik,
Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in: Arbeitsprotokoll der
Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (= Protokoll Nr. 35/89),
SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/3238, Bl. 34–39.
183 Siehe hierzu die Aufzeichnungen von Egon Krenz über die betreffende Sitzung: SAPMO-
BArch, DY 30/IV 2/2.039/77, Bl. 1–5.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99