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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
reichische Außenminister intensiv über die Entspannungspolitik sowie über die
Hoffnungen und Ungewissheiten betreffend Gorbatschows Reformpolitik aus.224
Bereits früh im Jahr 1987 hatte Genscher in einer Rede in Davos gefordert
„Gorbatschow beim Wort zu nehmen“. Im Verlauf des Jahres hatte sich aber ge-
zeigt, dass dies kein bundesrepublikanischer Konsens war. Nicht nur Kanzler
Kohl war skeptischer, auch im Auswärtigen Amt wurde eine vorsichtigere Sicht
der Dinge eingeräumt. Aus Sicht der österreichischen Diplomatie oszillierte die
Außenpolitik der Bundesrepublik in jenen Jahren zwischen Westbindung und
Ostpolitik hin und her, was wiederum die Beziehungen Bonns sowohl mit Ost
als auch West in mannigfaltiger Weise beeinflusste und stets Rücksichtnahmen
notwendig machte. Botschafter Bauer schloss: „Eine schmerzliche Lage für ein
wirtschaftlich grosses Land, das seine aussenpolitische Stärke wegen der vielen
Abhängigkeiten nicht voll einzusetzen wagen kann.“225
Offenkundig war das Bonner Bemühen um eine Verbesserung der Ostbezie-
hungen. Hierbei stellte das seit jeher komplizierte Verhältnis zu Polen einen
Schwerpunkt der österreichischen diplomatischen Berichterstattung dar. Ein
endgültiger Durchbruch blieb zunächst sogar mit dem sich transformierenden
Regime versagt. Nicht zuletzt, da der als Krönung gedachte Besuch Kohls in War-
schau im November 1989 wegen des „Mauerfalls“ unterbrochen werden musste
und plötzlich die Frage der „Wiedervereinigung“ und damit auch jene der Gren-
zen Deutschlands ganz real wieder auf der Tagesordnung stand.226
Das Verhältnis Bonns zur Sowjetunion war unter Kohl zunächst sehr kom-
pliziert. Moskau gab vorerst klar zu verstehen, dass es – bei aller Annäherung –
an der deutschen Teilung festhalten würde.227 Eine gewisse Nuancierung wurde
allerdings bereits anlässlich des Besuchs von Gorbatschow in der Bundesrepublik
vom 12. bis 15. Juni 1989 sichtbar. Trotz verschiedener dahinterstehender Ziel-
setzungen waren im gemeinsamen Kommuniqué erstaunliche Formulierungen
zur „Überwindung der Teilung Europas“ und zum Selbstbestimmungsrecht ge-
funden worden. Die aus unterschiedlichen Gründen sowohl seitens der Bundes-
republik (entspannungs- und deutschlandpolitische) als auch der Sowjetunion
(wirtschaftspolitische) gesuchte Annäherung wurde nicht zuletzt aufgrund der
Sympathiebezeugungen der westdeutschen Bevölkerung für Gorbatschow im
Westen auch mit Sorge verfolgt.228 Die Sowjetunion gab Österreich zu verstehen,
dass das Erreichte nicht überbewertet und keinesfalls als Aufforderung zur Desta-
bilisierung Osteuropas oder gar zu einer intensivierten Wiedervereinigungsdis-
kussion verstanden werden sollte.229 Auch das Auswärtige Amt warnte angesichts
224 Siehe Dok. 11.
225 Siehe Dok. 13. Dieser, der westdeutschen Außenpolitik inhärente Dualismus, wirkte auch
bereits titelgebend: Stefan Creuzberger, Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außen-
politik der Bundesrepublik, Berlin 2009.
226 Siehe Dok. 33, 74 und 76.
227 Siehe Dok. 29.
228 Siehe Dok. 41.
229 Siehe Dok. 42 und 48.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99