Seite - 66 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
der auf der Tagesordnung der internationalen Politik gelandet und verlangte nach
einer Positionierung.
Mock brachte im Gespräch mit dem belgischen Außenminister Mark Eyskens
am 10. November seine Genugtuung über die Maueröffnung zum Ausdruck, er-
wartete aber weiterhin durchaus Rückschläge in der bis dahin so glatt verlaufenen
Entwicklung des Jahres 1989.250 Am selben Tag gab der Ballhausplatz an seine
Auslandsvertretungen eine seit einiger Zeit in Diskussion stehende und ange-
sichts der Entwicklungen lange überfällige Weisung über die vorläufige Haltung
Österreichs zur Frage der „Wiedervereinigung“ aus, die das Selbstbestimmungs-
recht der Deutschen in der DDR betonte. Gleichzeitig wurde vor dem Hintergrund
der Ungewissheiten und der zu erwartenden Widerstände gegen eine „Wieder-
vereinigung“ festgehalten: „Jede Veränderung im deutsch-deutschen Verhältnis
sollte jedoch so erfolgen, dass der Prozess der Entspannung und der Frieden in
Europa nicht gefährdet“ werden. Bei der Formulierung der Sprachregelung waren
erneut große Auffassungsunterschiede zwischen der Ost- und der Westabteilung
des Ballhausplatzes sichtbar geworden.251
Was die deutsche Einheit anging, rechnete man in Wien im Herbst 1989 je-
denfalls noch in Jahren. Die zukünftige politische und ökonomische Entwick-
lung der DDR war jedoch akut unsicher. Den Oppositionsgruppen traute man
anfangs jedenfalls keine entscheidende Rolle zu und zunächst schien die deutsche
Einheit in der DDR kein Thema. Auch der Bundesrepublik attestierte die öster-
reichische Diplomatie, noch keine Antwort auf die in der DDR eingetretenen Ver-
änderungen zu haben. Jedoch schien es dort, als ob man wie selbstverständlich
davon ausging, dass alle DDR-Bürger die Einheit wollten,252 was nicht der Fall
war. Mit Blick auf die bilateralen Beziehungen erwartete die Botschaft in Ost-Ber-
lin konkret eine noch weitergehende Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen:
„Österreich hat heute die Chance, seine besondere Stellung in der DDR mit diesem
Neubeginn weiter auszubauen.“253 Am Ballhausplatz glaubte man also zunächst
jedenfalls an einen Fortbestand der DDR und wollte das bilaterale Verhältnis so-
gar noch weiter intensivieren.
Trotz der österreichischen Mitwirkung an der ungarischen Grenzöffnung wollte
auch die SED-Führung die Beziehungen zu Österreich in gewohnter Manier fort-
setzen. Noch am 24. Oktober stimmte das Politbüro einer Reise von Minister-
präsident Willi Stoph zu einem Arbeitsbesuch in Österreich, mit dem Zweck der
Unterzeichnung des jährlichen Wirtschaftsabkommens, zu.254 Günter Mittag, der
üblicherweise diese Aufgabe wahrgenommen hatte, war bereits gemeinsam mit
250 Siehe Dok. 70.
251 Siehe Dok. 69.
252 Siehe Dok. 71.
253 Hans Modrow und seine Mannschaft; Neue Regierung in der DDR (Info), Wunderbaldinger
und Graf an BMAA, Berlin (Ost), 17. November 1989, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES-1989
(1–10), Karton 24.
254 Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 24. Oktober 1989 (Protokoll
Nr. 45/89), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/2354, Bl. 10.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99