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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
entwarf. Kohl selbst dachte dabei an einen Jahre dauernden Prozess.276 Am Ball-
hausplatz fasste man das Programm zusammen und urteilte, dass sich dieser
„Vorstoß“ Kohls „aus innenpolitischen Gründen […] als zweckmäßig erwiesen
haben“ mag, jedoch „vom Standpunkt der Europa-Politik aus gesehen […] wohl
eine vorsichtigere, zuwartende Haltung der Bonner Regierung wünschenswert ge-
wesen“ wäre. Abschließend wurde festgehalten: „Bei allen westeuropäischen Staa-
ten ist eine gewisse Zurückhaltung in der Frage unverkennbar, wenngleich sich
keiner dieser Staaten offen gegen eine Wiedervereinigung ausgesprochen hat.“277
Aus eben diesen Gründen hielt auch der bereits resigniert scherzende DDR-Bot-
schafter in Moskau, Gerd König, eine vollkommene staatliche Vereinigung „für
nicht sehr realistisch“. Über die Haltung der Sowjetunion meinte er „in sarkas-
tischem Ton“, dass er „bis dato überhaupt keine Linie“ feststellen konnte.278
Wie üblich brachte die Diplomatie der Sowjetunion ihre offiziellen Ansich-
ten zu Deutschland betreffenden Fragen Österreichs Außendienst umgehend zur
Kenntnis. Am 29. November stattete der sowjetische Botschafter in Österreich,
Gennadi S. Schikin, Außenminister Mock einen Besuch ab. Auf das Zehn-Punkte-
Programm Kohls eingehend, sprach er von „eine[r] unzulässige[n] Einmischung
in die inneren Angelegenheiten der DDR“ die „potentiell das sicherheitspoliti-
sche Gleichgewicht“ gefährde. Dem hielt Mock u. a. entgegen: „Der 10-Punkte-
Plan BK Kohls könne aber als Versuch gewertet werden, eine sonst unkontrol-
liert verlaufende Strömung in der politischen Willensbildung aufzufangen.“279
Außenminister Mock unterstützte Kohls Programm auch öffentlich. Dies dürfte
nicht zuletzt an der Kooperation zwischen den christdemokratisch-konservati-
ven Parteien Westeuropas bereits in Fragen der politischen Umbrüche in Mittel-
und Osteuropa gelegen haben.280 Von Seiten der SPÖ war die Reaktion verhal-
tener. Klubobmann Heinz Fischer mahnte zur Zurückhaltung bei Äußerungen
zur „Wiedervereinigung“, gegenüber der in weiten Kreisen ein gehöriges Maß an
Skepsis fortbestanden haben dürfte.281
Für Österreichs Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, der auch detailliert über
die innen- und deutschlandpolitischen Beweggründe für den Schritt des Kanz-
lers berichtete,282 waren die „Zehn-Punkte“ eine „defensiv motivierte – innen-
276 Dazu mit Blick auf die Rolle und das Denken Kohls Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine
politische Biographie, München 2014, S. 527–535, insbesondere S. 533–535. Zusammenfas-
send von einer „nationalen Wende“ spricht Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland.
Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 137–142.
277 Siehe Dok. 80.
278 Siehe Dok. 81. Für Königs Erinnerungen siehe: Gerd König, Fiasko eines Bruderbundes. Er-
innerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau, Berlin 2011, S. 376–439.
279 Siehe Dok. 82.
280 Michael Gehler / Johannes Schönner, The European Democrat Union and the Revolutionary
Events in Central Europe in 1989, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die
deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 739–766.
281 Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands, S. 435–437.
282 Siehe Dok. 84.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99