Seite - 72 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
politische Flucht nach vorne“ die „augenblicklich geglückt“ war. Kohl hatte klare
Forderungen an die DDR gerichtet, die Voraussetzung für eine Annäherung und
westdeutsche Hilfe waren. Die zurückhaltenden bis offen skeptischen, ja sogar
warnenden westlichen Reaktionen verunsicherten Bonn jedoch. 40 Jahre hatte
sich die Bundesrepublik demokratisch bewährt und ihre Partner hatten zumin-
dest rhetorisch am Selbstbestimmungsrecht der Deutschen festgehalten. Nun da
dieses zum Thema wurde, blieb die westeuropäische Unterstützung dafür aus.
Bauer beschlich der Eindruck, „dass man angesichts solcher Verbündeter keinen
Feind zu fürchten hat“.283
Seit der Grenzöffnung und verstärkt nach dem „Mauerfall“ waren am Ball-
hausplatz vermehrt Berichte eingegangen, die über Skepsis gegenüber einer „Wie-
dervereinigung“ informierten. Beispielsweise wurde nun in Paris wieder darüber
diskutiert.284 Im Falle Frankreichs zeigte sich, obwohl das Selbstbestimmungs-
recht der Deutschen stets öffentlich betont wurde,285 zudem, dass vor diesem Hin-
tergrund auch das österreichische EG-Beitrittsgesuch mit anderen Augen gesehen
wurde – es wurde sogar vom „dritten deutschen Staat“ gesprochen.286 Auch die
Haltung Italiens zur Frage der deutschen Einheit erschien zumindest zwiespäl-
tig, wobei Giulio Andreottis Präferenz für zwei deutsche Staaten herausstach.
Der Premierminister musste sich erst, in den zumindest formal fortbestehen-
den, die deutsche Einheit bejahenden, westeuropäisch-integrierten Standpunkt
einfügen.287
Sowohl die innere Entwicklung der DDR, als auch die internationalen Re-
aktionen waren vorerst noch unabsehbar. Die „Zehn-Punkte“ Kohls wurden
am Ballhausplatz aber durchaus auch als Versuch gewertet, den Wiedervereini-
gungsgedanken in die DDR hineinzutragen. Mit Distanz von mehr als einer Wo-
che wurde zusammenfassend festgehalten: „Der Charakter der Reaktionen der
westlichen Staaten auf das Programm Kohls ist von Zurückhaltung, einer ge-
wissen Skepsis und gelegentlich einem Unterton des Unbehagens gezeichnet.“288
In Polen herrschte in der gesamten politischen Landschaft insbesondere ange-
sichts der von der Bundesrepublik bewusst offen gelassenen Grenzfrage Besorgnis
über die weitere Entwicklung.289 Insgesamt waren unter den Warschauer-Pakt-
Staaten aber sehr unterschiedliche Haltungen zur Frage der Wiedervereinigung
auszumachen.290
Die Sowjetunion war nach der Verkündung der „Zehn-Punkte“ Kohls bestrebt
gewesen, die Diskussion über das Thema Wiedervereinigung zu dämpfen. Gleich-
283 Siehe Dok. 83.
284 Siehe Dok. 63.
285 Siehe Dok. 72
286 Siehe Dok. 73.
287 Siehe Dok. 85, zur weiteren Entwicklung der italienischen Haltung im Dezember siehe auch
Dok. 96.
288 Siehe Dok. 92.
289 Siehe Dok. 91.
290 Siehe Dok. 100.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99