Seite - 74 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Mit Kohls vielumjubelten Besuch in Dresden am 19. Dezember 1989 wurde
offenkundig, wie viele Menschen in der DDR die Einheit wünschten, und fortan
war der bundesdeutsche Kanzler auch entschlossen, diese rasch anzustreben. Für
die österreichische Botschaft in Ost-Berlin war diese Entwicklung augenschein-
lich. Sie hielt fest: „Die Verflechtung der beiden deutschen Staaten scheint unter-
schwellig aber schon so weit gediehen zu sein, insbesondere wirtschaftlich, dass
die Frage der Ein- oder Zweistaatlichkeit im Lauf der Jahre immer mehr zu einer
hypothetischen Frage werden wird.“298 Die Botschaft Bonn vermeldete jedoch
(gewohnt gut gebrieft durch einen deutschlandpolitischen Berater Kohls) nach
Wien, „dass die BRD auf überschaubare Zeit für eine Stabilisierung – und damit
zunächst Stärkung der Staatlichkeit
– der DDR arbeitet. Das geschichtliche Ergeb-
nis hängt zum weitaus größeren Teil von der weiteren Entwicklung in der DDR
ab.“299 In gewisser Weise war das zutreffend, denn der fortschreitende Eindruck,
dass die DDR nicht mehr zu stabilisieren war, beeinflusste die weiteren Entschei-
dungen Bonns in Richtung Einheit.
Während Kohl bei seiner Rede in Dresden vor der Ruine der Frauenkirche
in der Menge badete, weilte Alois Mock in Großbritannien. Im Gespräch mit
Außenminister Douglas Hurd standen die europäische Integration und der öster-
reichische Beitrittswunsch im Zentrum. Die deutsche Frage spielte nur am Rande
eine Rolle.300 Mock erinnert sich, dass ihn Margaret Thatcher (in einer akten-
mäßig offenbar nicht erfassten Unterredung) fragte, was er „von der deutschen
Wiedervereinigung“ halte. Mock „meinte, dass wir froh sein könnten, wenn ein
Volk, das zwei Generationen lang getrennt gewesen war, derart friedlich“ zu-
sammenfinde. Allerdings sagte er „auch, dass alles das, das möglicherweise aus
dieser Vereinigung entstünde, für Europa und den Frieden gefährlich werden
könnte“.301 Im Vergleich zu seinen öffentlichen und gegenüber dem sowjetischen
Botschafter getätigten Aussagen, schwang hier doch eine gewisse Sorge mit. Im
Rahmen der Beamtengespräche im Foreign Office betonte Österreich das Selbst-
bestimmungsrecht der Deutschen, hielt aber fest, dass eine Vereinigung im Rah-
men des europäischen Friedensprozesses erfolgen müsse. Daraufhin erklärten die
Briten, ihre „Haltung entspreche im großen und ganzen der österreichischen“, um
anschließend ihren Sorgen und Vorbehalten freien Lauf zu lassen und abschlie-
ßend zu bemerken: „Die britische Regierung halte sich mit Kritik an Bundes-
kanzler Kohl aus Solidaritätsgründen mit der CDU zurück und überlasse die
298 Siehe Dok. 101.
299 Siehe Dok. 102.
300 Siehe Dok. 98.
301 Für Mocks Erinnerungen an sein Gespräch mit Thatcher über die deutsche Einheit siehe das
Zeitzeugengespräch von Helmut Wohnout / Michael Gehler, Alois Mock, „… die Interessen
unseres Landes vertreten“, in: Helmut Wohnout (Hg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch
des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich
5, Wien 2001, S. 39–63, hier S. 54.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99